Über den
Compur-Verschluss selbst und die zugehörige Seriennummer-Sequenz habe ich ja schon mehrfach geschrieben (
hier und
zuletzt hier). Mein Sammlerkollege Attila hat mir gestern morgen dort einen Kommentar hinterlassen und über seinen Compur mit der fünfstelligen Seriennummer #70009 berichtet. Ich war natürlich gleich hellwach, steht doch bisher in allen Internet-Quellen, dass die Compur Zählung bei ca. 214.000 und im Jahre 1912 anfängt. Ich habe ihn gebeten, mir (und damit der Sammel-Community) die entsprechenden Bilder dazu zur Verfügung zu stellen, hier sind sie.
Bevor ich mich an Erklärungsversuche mache, zunächst die anderen Fakten und noch ein bisschen mehr Hintergrund-Recherche. Es handelt sich um einen Rädchen-Compur ("Dial-set") der Größe #0 mit der minimalen Verschlusszeit von 1/200 s. Darin gefasst ist ein Meyer-Görlitz Doppel-Anastigmat Helioplan 13.5 cm f/4.5 mit der Seriennummer #404208,
die auf ca. 1930, evtl. etwas davor zeigt. Eine Kamera ist zu der Kombination nicht mehr vorhanden, vermutlich handelte es sich um eine Laufbodenkamera für das Format 9x12, wie z.B. meine
Agfa Isolar. Das äußere Erscheinungsbild des Verschlusses gleicht bezüglich Lackierung, Material und Beschriftung anderen Compur-Verschlüssen aus den späten 20er und frühen 30er Jahren. Aus dieser Zeit sind die allermeisten dieser Verschlüsse bekannt, und sie haben (fast) alle hohe 6-stellige Seriennummern. Bei einer kurzen dezidierten Suche nach fünstelligen Compur-Nummern ist mir noch ein anderer über den Weg gelaufen, auch mit Foto,
diesmal ist es die #11443 auch an einer Kamera vom Ende der 1920er Jahre.
Jetzt könnte man natürlich das Naheliegende annehmen: Warum sollte es eigentlich keine frühen fünfstelligen Seriennummern geben, also ca. für die Jahre 1910 oder 1911?
Das Patent (mit der unter dem Objektiv angegebenen Nummer 258646) stammt aus dem Juni 1910, das wäre der Startpunkt. Ich finde, die Indizien sprechen dagegen:
- Wenn es so wäre, müßten eigentlich noch Kombinationen solcher Verschlüsse existieren mit Kameras und oder Objektiven, die nachweislich den frühen Vorkriegsjahren 1910-1914 zugeordnet werden können.
- Der technische Fortschritt oder schlicht Geschmacksfragen sollten sich in kleinen Detailunterschieden zwischen den frühen Verschlüssen und den nachweislich am Ende der 20er Jahre produzierten zeigen.
Daher postuliere ich mal folgendes:
- Die Verschlüsse mit den fünfstelligen Seriennummern stammen vom Ende der 1920er Jahre. Ich gehe weiterhin davon aus, dass die ersten Compurverschlüsse mit der Seriennummer 214xxx starten und Deckel damit einfach seine schon bei Compound und Co. eingeführte Zählung fortsetzt.
- Eine für mich sehr plausible Erklärung für die fünfstelligen Nummern könnte sein, dass die Werkzeugmaschine(n), die die Seriennummer gestanzt haben, nur auf sechs Stellen ausgelegt waren und erst einmal aufgerüstet werden mussten. Sprich: die 70009 ist eigentlich als 1070009 zu lesen. Deckel konnte mit dieser Übergangslösung leben, da ein möglicher anderer Verschluss mit der selben Seriennummer definitiv kein Compur war.
Es kann natürlich noch andere Erklärungen geben. Wer eine andere Idee hat, bitte unten kommentieren. Außerdem wäre es toll, wenn wir gemeinsam noch weitere Belege sammeln könnten: Wer einen Compur mit fünf- oder niedriger sechsstelliger Seriennummer (< 214.000) hat, bitte auch mit Angaben zu Kamera und/oder Objektiv entweder hier kommentieren oder mir eine e-mail (knippsen (at) icloud.com) schicken. Danke nochmal an Attila für dieses wertvolle Geschichts-Puzzlestück und natürlich die Fotos hier.
Nachtrag am 3. Oktober 2024
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4-stelliger Compur (Größe1), gefunden an einer Voigtländer Bergheil 9x12, mit einem Heliar 13,5 f/4,5 (beides 1927) |
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Rad-Compur (Größe 2), an einer Voigtländer Bergheil 10x15, mit einem Skopar 16,5 f/4.5 (1927) |
Eure Rückmeldungen waren diesmal sehr schnell und ich bin sehr erfreut hier noch weitere sehr niedrige Seriennummern zeigen zu dürfen. Der Sammler-Kollege Jan Seifert hat sogar vier Kameras in seiner Sammlung, die Nummern unterhalb der 214.000 haben. Darunter sogar eine nur vierstellige Nummer. Neben den beiden hier per Foto gezeigten gibt es noch die #101689 (Größe 00, Zeiss Ikon Cocarette 207U mit Tessar 9cm f/4.5, von 1927) und die #145582 (Größe 2, Zeiss Ikon (ehem. Ernemann) Heag IX 13x18, Tessar 18 cm f/4.5, 1927). Na, fällt was auf? Alle Kameras sind anhand anderer Merkmale eindeutig dem Jahr 1927 zuzuordnen. Damit bekommt meine These von oben gehörige Unterstützung.
Ja, und dann erhielt ich noch eine fast unglaubliche Liste vom Kollegen Pavel Krumphanzl aus Prag. Sie enthielt 891 frühe Kameras mit Compound und Compur-Verschlüssen. Alle davon sind aus dem Zeiss Ikon "Verbund" (sprich ICA, Contessa-Nettel, Ernemann, Goerz und ab 1926 "ZI"), 650 davon haben eine Seriennummer nach dem ICA/ZI-Schema, die mir eine grobe Zuordnung der Kameras zum Herstelljahr erlaubten. Auch Objektiv-Seriennummern waren da, die habe ich aber für meine Schnellanalyse außen vor gelassen. Hier die Grafik dazu:
Und man sieht es ganz deutlich: Compur-Verschlüsse mit Seriennummern unter 250,000 wurden in den späten 1920er Jahren verbaut. In Pavels Liste sind 150 davon, auch ein paar mit fünfstelliger Nummer. Bei Gelegenheit werde ich noch weiter in die Liste eintauchen und meine Analyse(n) verfeinern. Pavel hat mich auf seine Beobachtungen hingewiesen, dass in den 1920er Jahren bestimmte Nummernblöcke gehäuft bei bestimmten Produzenten auftauchen (z.B. ICA hat oft 300xxx-450xxx, Goerz und Contessa Nummern über 500-Tausend). Und natürlich die Sache, dass Zeiss Ikon Kameras den RIM-Compur ab 1928 mit den Nummern 1.xxx.xxx bekamen, alle anderen Hersteller mit 2.xxx.xxx. Genauso hat es Deckel mit dem Compur Rapid ab 1934 gemacht (ZI: 4.xxx.xxx, andere: 5.xxx.xxx). Aber mehr dazu ein anderes mal... Ganz großen Dank an Pavel und Jan, und an alle anderen, die hier unten ggf. noch kommentieren und eigene Erkenntnisse beitragen.