2022-12-30

Contessa Nettel Seriennummern

Bei meinem Versuch, über die Seriennummern der Piccolette ihre Produktionsmenge abzuschätzen bin auch ich gescheitert. Nach der Sichtung von -zig Quellen und Bildern war ich kurz davor ca. 700-Tausend Stück auszuloben (inkl. der Zeiss-Ikon Produktion von 1927-1930). Ich hatte allerdings einen entscheidenden Fehler gemacht, der meine ganze Abschätzung über den Haufen wirft. Die Contessa-Nettel Leute haben die Seriennummern für alle ihrer Modelle hochgezählt und nicht separat für jedes einzelne Modell. Die folgenden Überlegungen und Erkenntnisse sind es trotzdem wert festgehalten zu werden, erlauben sie doch wenigstens grob eine zeitliche Einordnung der Contessa Nettel Kameras in den Jahren 1919-1926.

Basis meiner Recherchen waren Piccolette Seriennummern, die hauptsächlich von Dirk Spennemann auf Camera-Wiki zusammengetragen wurden. Diese habe ich durch eigenes Suchen erweitert und dabei auch andere Contessa Nettel Kameras, insbesondere die Cocarette hinzugezogen. Insgesamt sind bisher 24 Seriennummern zum Teil mit weiteren Information (zuhörige Objektiv- oder Verschluss-Nummern) zusammengekommen.
  • Leider habe ich bisher nur eine einzige fünfstellige Nummer (26571, eine "Tropical Sonnet") gefunden, die 1919 zugeordnet wurde. Man kann annehmen, dass sowohl die Vorgängerfirmen Contessa und Nettel eigene Zählungen hatten, die man irgendwie weitergeführt hat.
  • Das Ende der Zählung im Jahr 1926 ist etwas klarer.  Ein Schlüssel für mich ist die 661720, die schon das Zeiss Ikon Logo trägt und damit frühestens ab Oktober 1926 hergestellt wurde. Das nächste Puzzlestück ist die M34300, die nun der ZI-Seriennummerlogik mit dem führenden Buchstaben folgt und somit von 1927 ist. Ich habe noch zwei andere Kameras mit 6xxxxx-Nummern, die eindeutig 1926 zugeordnet werden können.
  • Jetzt liegt es nahe, die erste Ziffer der Seriennummer als Produktionsjahr zu interpretieren (6 für 1926, 5 für 1925, etc.). Ich glaube, das taugt tatsächlich als grober Anhaltspunkt zumindest für die Jahre 1923-1926, was den Großteil der Produktion ausmachen dürfte.
  • Aber war Contessa Nettel überhaupt in der Lage ca. 100.000 Kameras pro Jahr zu produzieren? Ich kann mir das nach Sachlage höchstens für das letzte Jahr 1926 vorstellen. Laut Hartmut Thiele ("Die Deutsche Photoindustrie") hatte das Werk in Stuttgart zu diesem Zeitpunkt 480 Mitarbeiter und 600 Werkzeugmaschinen. Das ist interessanterweise nur etwas mehr als die 450 Mitarbeiter des Agfa-Kamerawerkes in München (ehemals Rietzschel) in diesem Jahr. Die hatten ein ähnliches Portfolio und schafften in diesem Jahr 45.000 Kameras. Die Jahre davor waren von starkem Wachstum und auch Rationalisierung geprägt, insgesamt haben die Münchner von 1921-1926 aber nur 93.250 Kameras gebaut (Günther Kadlubek, "AGFA - Geschichte eines deutschen Weltunternehmens von 1867 bis 1997"). Bei den Stuttgartern von Contessa Nettel wird es ähnlich gewesen sein. Selbst mit großzügigem Aufschlag werden es nicht viel mehr als 150.000 Kameras insgesamt (nicht pro Jahr!) gewesen sein.
  • Die Jahre von 1919 bis 1923 waren ja geprägt von Hyperinflation und werden nicht sonderlich produktiv gewesen sein. Kapital für Investitionen in Maschinen war knapp, Arbeitskräfte hingegen relativ preiswert. Die meisten Deutschen konnten sich in dieser Zeit keine Kameras leisten. Auf der anderen Seite ist solch eine Situation auch gut für den Export, die Mehrzahl der Kameras dürften so ihren Weg in die USA oder andere Länder mit stabilerer Währung gefunden haben. Die entsprechenden Devisen waren bei Contessa Nettel vermutlich sehr willkommen.
  • Ab 1923 und der Währungsreform ging es auch für Deutschland in die Golden Twenties und daher vermute ich den Großteil und Höhepunkt der Contessa Nettel Produktion im Zeitraum 1923-1926. Man merkt den Aufschwung auch an den gesichteten Kameras. Während die einfachen Piccoletten eher 2xxxxx und 3xxxxx Nummern haben, beginnen die hochwertigen Kameras meist mit 4 oder 5.  
Am Ende ist es also ein unvollständiges Puzzle. Wie gehen ca. 600.000 mögliche Seriennummern mit ca. 150.000 Kameras zusammen? Falls jemand auf die Idee kommen sollte, dass die Seriennummern irgendeiner anderen Logik oder Muster folgen: Ich habe es geprüft: Bis auf die führende Ziffer (wo ja 0, 7, 8 und 9 fehlen) sind alle Zahlen relativ gleich verteilt, wie es sich für eine aufsteigende lückenlose Zählung gehört. 
Wie immer bin ich für weitere Ideen, Anregungen und Kritik dankbar (knippsen (at) icloud.com oder hier unten im Kommentar. Welcher Stuttgarter Heimatforscher weiß noch mehr über Contessa Nettel in den Jahren 1919-1926?


2022-12-28

Contessa Nettel Piccolette

Sie ist um die 100 Jahre alt, genauer kann man das leider nicht sagen (später dazu mehr) und war Anfang der 1920er Jahre das Einstiegsmodell der noch jungen Stuttgarter Kameraschmiede Contessa Nettel. Eigentlich ist sie ein Klon der Vest Pocket Kodak, deren 127er Rollfilm auch sie verwendet. Auf dem folgenden Bild sieht man die große Ähnlichkeit, nicht nur in Größe und Form, sondern auch viele Details sind eine Kopie des Originals (auch wenn dieses hier in gehobener Ausstattung daherkommt). 
Aber die Piccolette hat auch ein paar Verbesserungen eingebaut. Insbesondere das Filmhandling mit dem herausnehmbaren Filmhalter war deutlich einfacher als bei der Kodak. Aber auch den festen, nach dem Gehäuse gebogenen Ständer finde ich sehr gelungen. Er ist in dieser Form einzigartig und ist damit das charakteristische Merkmal der Piccolette.


Ich denke, man darf August Nagel als treibende Kraft hinter der Piccolette vermuten, auch wenn ich dazu nichts konkretes gefunden habe. Er war ab 1919 (Teil-) Eigentümer und Direktor von Contessa Nettel und hat sicher den Erfolg der Vest Pocket Kodak am Markt neidisch zur Kenntnis genommen. Schon sein Vorgängerunternehmen Contessa hatte mit der Pixie eine Kamera mit ähnlicher Spezifikation am Markt. Jetzt behauptet McKeown (12. Auflage 2004), dass es eine Ur-Version der Piccolette von 1914 ab aus dem Kamerawerk Nettel gab. Ich möchte das stark bezweifeln. Erstens gibt es zu dieser frühen Version keinerlei Fotos noch Katalogabbildungen (ich habe einen Nettel-Katalog von 1918 geprüft), zweitens hatte Nettel zu der Zeit keinerlei Erfahrung mit Rollfilmkameras, sondern war bekannt für seine Plattenkameras.

Ich bleibe also bei der Einschätzung der meisten anderen Quellen: Die Piccolette kam ca. 1919 auf den Markt. Eine erste Version (A) hatte noch keinen Brilliantsucher, dafür den Namenszug Piccolette oberhalb des Objektives, darunter stand: "Contessa Nettel Stuttgart".  Bei der Version (B, ab ca. 1920) kam der Brilliantsucher dazu (oben links), oben rechts prangte das Contessa-Nettel Zeichen und Piccolette stand ab dann unterhalb des Objektivs. Nach der Fusion zu Zeiss Ikon im Jahre 1926 ging es mit der Kamera bis ca. 1930 weiter, jetzt mit dem Zeiss Ikon Logo (Zeiss Ikon Katalog-Nummer 545/12). Sowohl von Contessa Nettel als auch später von Zeiss Ikon (546/12) gab es eine "Piccolette De Luxe", mit edlem Leder bezogen und einem Laufboden zum Scharfstellen per Balgenauszug. 
Die Piccolette gab es (wie damals allgemein üblich) mit einer ganzen Reihe von Objektiven und Verschlüssen (siehe unten, auch in den Links). Meine hier ist die simpelste Version mit einem einlinsigen Meniskus-Objektiv (f/11), das sich hinter der Irisblende und dem Arco-Selbstspannverschluss versteckt. Diese Version gab es in den USA 1923 für nur 8 US$ zu kaufen (siehe Anzeige unten für besser bestückte Varianten). 
Keine der mir bekannten Quellen hat sich bisher an eine Schätzung der Produktionszahl dieser erfolgreichen Kamera getraut. Ich werde das demnächst mal auf Basis von Seriennummern versuchen (extra Beitrag). Diese sind sechsstellig und finden sich nach Herausnehmen des Filmhalters auf der Unterseite der Kamera, meist sehr stark korrodiert bis unlesbar. Die letzten 3 Ziffern werden auf dem Filmträger wiederholt. Ich konnte meine Seriennummer 234783 gerade so rekonstruieren. Ich hoffe, dass mir damit auch die genauere zeitliche Zuordnung gelingt.  


Datenblatt frühe Westentaschen-Kamera für Rollfilm 127, 4x6.5 cm
Objektiv simpler Meniskus Achromat 7.5 cm f/11. Kamera war auch mit vielen anderen (besseren) 7.5cm Objektiven erhältlich, die hochwertigste Version: Zeiss Tessar f/4.5 mit Frontlinsen Fokussierung.
Verschluss Acro Selbstspannverschluss T-B-25-50-75. Kamera war auch mit mit Piccar, Derval, Pronto oder Compur-Verschluss erhältlich. 
Fokussierung Fixfokus, hochwertige Objektive mit Frontlinsenfokussierung.
Sucher ausklappbarer Rahmensucher, kleiner Brilliantsucher (ab ca. 1920) 
Filmtransportmit einfacher Flügelschraube, Bildzähler auf Filmträgerrückseite, Ansicht durch rotes Fenster.
sonst. Ausstattung Drahtauslösergewinde, kein (!) Stativgewinde (erst ab ca. 1927)
Maße, Gewicht 30x122x64 mm, 251g
Baujahr(e) 1919-1926, als Zeiss Ikon Piccolette bis ca. 1930. Diese #234783 von ca. 1923
Kaufpreis, Wert heute 8 US$ (USA 1923), je nach Zustand und Ausstattung 20-100 €
Links Camera-WikiEarlyphotography, Zeiss Ikon Brochure 1928, Pacificrim instruction bookletMike Elek Video manual, Sammlung Kurt Tauber, Engel-Art, Emtus, John's cameras, Britische Anzeige 1924, Französische Anzeige 1924?, Dänische Anzeige 1922
Bei KniPPsen weiterlesen Vest Pocket Kodak127er RollfilmAugust Nagel, Ernemann Bobette