Sie ist um die 100 Jahre alt, genauer kann man das leider nicht sagen (später dazu mehr) und war Anfang der 1920er Jahre das Einstiegsmodell der noch jungen Stuttgarter Kameraschmiede Contessa Nettel. Eigentlich ist sie ein Klon der Vest Pocket Kodak, deren 127er Rollfilm auch sie verwendet. Auf dem folgenden Bild sieht man die große Ähnlichkeit, nicht nur in Größe und Form, sondern auch viele Details sind eine Kopie des Originals (auch wenn dieses hier in gehobener Ausstattung daherkommt).
Aber die Piccolette hat auch ein paar Verbesserungen eingebaut. Insbesondere das Filmhandling mit dem herausnehmbaren Filmhalter war deutlich einfacher als bei der Kodak. Aber auch den festen, nach dem Gehäuse gebogenen Ständer finde ich sehr gelungen. Er ist in dieser Form einzigartig und ist damit das charakteristische Merkmal der Piccolette.
Ich denke, man darf August Nagel als treibende Kraft hinter der Piccolette vermuten, auch wenn ich dazu nichts konkretes gefunden habe. Er war ab 1919 (Teil-) Eigentümer und Direktor von Contessa Nettel und hat sicher den Erfolg der Vest Pocket Kodak am Markt neidisch zur Kenntnis genommen. Schon sein Vorgängerunternehmen Contessa hatte mit der Pixie eine Kamera mit ähnlicher Spezifikation am Markt. Jetzt behauptet McKeown (12. Auflage 2004), dass es eine Ur-Version der Piccolette von 1914 ab aus dem Kamerawerk Nettel gab. Ich möchte das stark bezweifeln. Erstens gibt es zu dieser frühen Version keinerlei Fotos noch Katalogabbildungen (ich habe einen Nettel-Katalog von 1918 geprüft), zweitens hatte Nettel zu der Zeit keinerlei Erfahrung mit Rollfilmkameras, sondern war bekannt für seine Plattenkameras.
Ich bleibe also bei der Einschätzung der meisten anderen Quellen: Die Piccolette kam ca. 1919 auf den Markt. Eine erste Version (A) hatte noch keinen Brilliantsucher, dafür den Namenszug Piccolette oberhalb des Objektives, darunter stand: "Contessa Nettel Stuttgart". Bei der Version (B, ab ca. 1920) kam der Brilliantsucher dazu (oben links), oben rechts prangte das Contessa-Nettel Zeichen und Piccolette stand ab dann unterhalb des Objektivs. Nach der Fusion zu Zeiss Ikon im Jahre 1926 ging es mit der Kamera bis ca. 1930 weiter, jetzt mit dem Zeiss Ikon Logo (Zeiss Ikon Katalog-Nummer 545/12). Sowohl von Contessa Nettel als auch später von Zeiss Ikon (546/12) gab es eine "Piccolette De Luxe", mit edlem Leder bezogen und einem Laufboden zum Scharfstellen per Balgenauszug.
Die Piccolette gab es (wie damals allgemein üblich) mit einer ganzen Reihe von Objektiven und Verschlüssen (siehe unten, auch in den Links). Meine hier ist die simpelste Version mit einem einlinsigen Meniskus-Objektiv (f/11), das sich hinter der Irisblende und dem Arco-Selbstspannverschluss versteckt. Diese Version gab es in den USA 1923 für nur 8 US$ zu kaufen (siehe Anzeige unten für besser bestückte Varianten).
Keine der mir bekannten Quellen hat sich bisher an eine Schätzung der Produktionszahl dieser erfolgreichen Kamera getraut. Ich werde das demnächst mal auf Basis von Seriennummern versuchen (extra Beitrag). Diese sind sechsstellig und finden sich nach Herausnehmen des Filmhalters auf der Unterseite der Kamera, meist sehr stark korrodiert bis unlesbar. Die letzten 3 Ziffern werden auf dem Filmträger wiederholt. Ich konnte meine Seriennummer 234783 gerade so rekonstruieren. Ich hoffe, dass mir damit auch die genauere zeitliche Zuordnung gelingt.
Datenblatt | frühe Westentaschen-Kamera für Rollfilm 127, 4x6.5 cm |
Objektiv | simpler Meniskus Achromat 7.5 cm f/11. Kamera war auch mit vielen anderen (besseren) 7.5cm Objektiven erhältlich, die hochwertigste Version: Zeiss Tessar f/4.5 mit Frontlinsen Fokussierung. |
Verschluss | Acro Selbstspannverschluss T-B-25-50-75. Kamera war auch mit mit Piccar, Derval, Pronto oder Compur-Verschluss erhältlich. |
Fokussierung | Fixfokus, hochwertige Objektive mit Frontlinsenfokussierung. |
Sucher | ausklappbarer Rahmensucher, kleiner Brilliantsucher (ab ca. 1920) |
Filmtransport | mit einfacher Flügelschraube, Bildzähler auf Filmträgerrückseite, Ansicht durch rotes Fenster. |
sonst. Ausstattung | Drahtauslösergewinde, kein (!) Stativgewinde (erst ab ca. 1927) |
Maße, Gewicht | 30x122x64 mm, 251g |
Baujahr(e) | 1919-1926, als Zeiss Ikon Piccolette bis ca. 1930. Diese #234783 von ca. 1923 |
Kaufpreis, Wert heute | 8 US$ (USA 1923), je nach Zustand und Ausstattung 20-100 € |
Links | Camera-Wiki, Earlyphotography, Zeiss Ikon Brochure 1928, Pacificrim instruction booklet, Mike Elek Video manual, Sammlung Kurt Tauber, Engel-Art, Emtus, John's cameras, Britische Anzeige 1924, Französische Anzeige 1924?, Dänische Anzeige 1922 |
Bei KniPPsen weiterlesen | Vest Pocket Kodak, 127er Rollfilm, August Nagel, Ernemann Bobette, |
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen