2022-03-20

Super Nettel (Zeiss Ikon 536/24)

Mit dieser wundervollen Super Nettel aus dem Hause Zeiss Ikon wächst meine Sammlung von Kleinbildkameras aus den 1930ern um einen wichtigen Baustein. Zeiss Ikon hatte sich nach der erzwungenen Fusion seiner Vorgängerunternehmen (1926) in wenigen Jahren zum Technologieführer gemausert. Die interne Konsolidierung des Produktportfolios (viele gleichartige Platten und Rollfilmkameras für 'zig Formate) setzte Resourcen in der Entwicklung und Produktionskapazität frei. Gleichzeitig hatte man das Glück, dass ein Generationswechsel stattfand, und ein paar junge Ingenieure bekamen die Chance, ihre frischen Ideen in leitenden Positionen tatsächlich in die Tat umzusetzen. Bei Zeiss Ikon in Dresden waren das insbesondere Heinz Küppenbender und etwas später auch Hubert Nerwin

Und es dämmerte tatsächlich ein neues Zeitalter der Fotografie, genau: die Kleinbildfotografie wurde zum neuen Wachstumstreiber der ganzen Branche. Nach ersten eher weniger erfolgreichen Gehversuchen mit der Klasse der 3x4-Kameras (auch von Zeiss Ikon), erschienen spätestens ab 1934 immer mehr KB-Kameras für den 35mm breiten Kinofilm. Mit der Leica gab es schon seit 1925 ein Rollenmodell auf dem Markt, was für viele Wettbewerber Ansporn war und den Weg vorzeigte. Zeiss Ikon war 1932 der erste, der mit der Contax Leica was entgegenzusetzen hatte. Das später dann Contax I genannte Modell hatte noch die eine oder andere Kinderkrankheit und galt nicht wirklich als zuverlässig. Die Verbesserungen dazu wurden bei Zeiss Ikon in der laufenden Produktion sukzessive umgesetzt. Man perfektionierte seine Prozesse und die daraus hervorgehenden Produkte, so dass die 1936 vorgestellten Contax II und Contax III sich tatsächlich (auch preislich) an die Spitze des KB-Kameramarktes setzten. 

Aber mit der technologischen Spitze lässt sich alleine nicht genug Geld verdienen. Zeiss Ikons Wettbewerber waren auch nicht untätig, insbesondere Kodak (Nagelwerk) in Stuttgart trieben die Konkurrenz mit der günstigen aber leistungsfähigen Retina Serie vor sich her. Und so musste auch bei Zeiss Ikon ein Modell für den anspruchsvollen Amateur her, der sich im Gegensatz zu den Profis keine Contax leisten konnte. Man nehme also den Schlitzverschluss der Contax und viele Gleichteile aus Gehäuse und Filmhandling, greife in die Carl Zeiss Jena Objektivkiste und baue dies fest an einen schlichten Faltbalgen mit Scherenspreizen. Gewürzt wird das Ganze mit dem innovativen Drehkeil-Entfernungsmesser der Super-Ikonta, voila: Fertig ist die „Super Nettel“, auch vermarktungstechnisch geschickt anknüpfend an die Stuttgarter Contessa-Nettel Tradition. 
Als die Super Nettel 1935 auf den Markt kommt hat sie sogar schon das verbesserte Verschlussdesign mit dem zentralen Auslöser an Bord, das erst ein Jahr später mit der Contax II (wieder verbessert) auf den Markt kommt. Auch sonst wirkt sie selbst heute noch sehr durchdacht und fertig. Bei meinem Exemplar ist fast der gesamte schwarze Lack noch intakt, selbst bei den sonst üblichen Zeiss bumps gibt es nur auf der rechten Kameravorderseite was zu bemängeln. Zeiss Ikon hat während ihrer 4-jährigen Bauzeit nur minimale Änderungen vorgenommen. Allerdings gab es mit der Super Nettel II (537/24) ab 1936 etwas Differenzierung. Das ansonsten baugleiche Modell hatte Chrome statt schwarzem Lack, außerdem wurde es exklusiv mit dem 2.8-Tessar verkauft (angeblich in limitierter Auflage von 2000 Stück). Das nun Super Nettel I genannte Basimodell gab es nur noch mit dem 3.5-Tessar oder dem günstigeren Triotar. Zum Ende wurden gar die Preise noch gesenkt, vermutlich um sie den direkten Konkurrenten am Markt anzupassen. Eine tolle Kamera, für meinen Geschmack mit über 600 g etwas zu schwer und groß für das was sie am Ende kann. Aber vielleicht mach ich ja trotzdem mal ein paar Bilder damit…

Datenblatt Frühe Kleinbildkamera mit Schlitzverschluss für den anspruchsvollen Amateur
Objektiv Carl Zeiss Triotar 5cm f/3.5 (Triplet, nicht vergütet, #1651145, 1935) . Kamera war auch erhältlich mit Tessar 5cm f/2.8 oder f/3.5.
Verschluss Vertikaler Metallrollo-Schlitzverschluss, B-5-10-25-50-100-200-500-1000 1/s. Keine Blitzsynchronisation vorgesehen. Auslöser mit Drahtauslösergewinde im Zentrum des Spanndrehknopfes. Herausziehen dieses Knopfes dient zur Wahl der Verschlusszeit.
Fokussierung mittels Rändelschraube am Drehkeil-Entfernungsmesser. Kürzeste Entfernung ca. 1m. Dieses Exemplar hat die Skala in feet.
Sucher optischer Durchsichtsucher direkt neben Entfernungsmessereinblick. Keine Parallaxenkorrektur.
Filmtransport Mittels Drehknopf an der Kameraoberseite, womit auch der Verschluss gespannt wird. Die Kamera akzeptiert Standard-135er Film und die normale Contaxaufwickelspule. Alternativ können auch Zeiss Ikon Tageslicht-Kassetten verwendet werden, die mit den Schlüsseln an der Unterseite der Rückwand verschlossen werden.
sonst. Ausstattung Zubehörschuh, Abnehmbare Rückwand, kompatibel zu Contax-Zubehör wie z.B. Platten/Planfilmadapter, Stativgewinde 1/4‘‘. Vorwärtszählender Bildzähler, Trageösen (nicht selbstverständlich zu der Zeit)
Maße, Gewicht ca. 42 x 70 x 132 mm, 621g
Baujahr(e) 1935-1938, diese #C20968 von 1936. 
Kaufpreis, Wert heute 165 RM (1938), ca. 200€
Links Camera-Wiki, Operating manual, BedienungsanleitungMike Elek, Klaus-Eckard Riess, Meyer.de, Earlyphotography.co.uk
Bei KniPPsen weiterlesen Contax II, Leica III, Tenax I, KB Balgenkameras der 30er, Certo DollinaZeiss Ikon Kolibri, Dr. Paul Rudolph, Weltini II

Die Super Nettel kostete bei Photo Porst im Jahr 1935 mindestens 198 Reichsmark.  Im Jahr 1938 war die Spitzenversion mit dem 2.8 Tessar nicht mehr im Porst Programm, dafür die Einstiegsversion mit dem Triotar für 165 RM.

2022-03-11

Certo Dolly Vest Pocket

Eigentlich war dies Dolly nur ein Beifang zur Icarette und ich habe nur 11€ dafür bezahlt. Allerdings hatte ihr Verkäufer sie schlecht bzw. falsch beschrieben. Es ist aber auch nicht ganz einfach, sie richtig einzuordnen, über sie wird viel widersprüchliches im Netz (und auch in Büchern) verbreitet. Daher passt sie ganz gut in meine wachsende Sammlung von Kameras für den Rollfilm 127 und aus den 1930er Jahren, und mir macht es Spaß, hier mal die Fakten von den Vermutungen und Falschmeldungen zu trennen. 
Mit 38 mm Dicke passt sie zusammengeklappt
gerade noch so in Jacken- oder Hosentaschen
Zunächst einmal ist sie eine kompakte (Taschen-) Version einer klassischen Faltbalgenrollfilmkamera mit selbst aufrichtenden Balgen. Sie steht außerdem voll in der Tradition der Vest Pocket Kodak von 1912, die das Format 4 x 6.5 cm und den dazugehörigen 127er Rollfilm eingeführt hatte. Das sollte man nicht mit dem fast genauso großen Format 4.5 x 6 cm (120er Rollfilm) verwechseln, für das Certo die sonst fast identische "Super Sport Dolly" (auch "SS Dolly") ab ca. 1934 im Programm hatte, siehe weiter unten. Tatsächlich hat sich letzteres Format am Markt durchgesetzt und auch schon zu Zeiten der Dolly (Mitte der 1930er) gab es mehr Kameras dafür als für den "Vest Pocket Film".

Die Dolly wurde als "Zweiformatkamera" beworben, der Kamera lag eine metallene Maske bei, die im Bildfenster platziert wird und das Negativ auf 3x4 beschränkt (ist bei meiner leider verloren gegangen). Entsprechende Markierungen gibt's auch im Sucher. Aus diesem Grund hat die Dolly auch die von 3x4-Kameras üblichen 2 roten Fensterchen für die Bildnummern auf dem Rückseitenpapier. Wenn man die Maske nicht drin hat und also das volle Format belichtet, kann man sich aussuchen, welches der beiden Fensterchen man zum Filmvorspulen verwendet. Man sollte es sich allerdings gut merken und dabei bleiben, ansonsten gibt es entweder überlappende Negative oder 3 cm breite Zwischenstege. Ich denke allerdings, dass die meisten Dolly-Fotografen das Halbformat eher nicht genutzt haben, denn die fest eingebaute 75 mm Brennweite ist dafür ja eher etwas lang und außer für Portraits unpraktisch.

Dies ist nicht die erste Dolly genannte Kamera, davor (ca. 1930-1932) hatte Certo zwei Varianten (oft mit A und B bezeichnet) einer 3x4-Halbformatkamera für den 127er Rollfilm unter diesem Namen auf dem Markt. Das Scheitern dieser Kamerklasse habe ich schon ausführlich beleuchtet. Certo reagiert auf die Markt mit neuen Modellen und Konzepten: 1932 erscheint das neue 127er-Modell "Sonny", das schon nach sehr kurzer Zeit wegen eines Konfliktes mit der Fa. Foth, die sich "Sonnyflex" hatte registrieren lassen, in den bekannten Namen "Dolly" umbenannt wurde: Eben diese Kamera hier. 

1934 kam dann die "Super Sport" (auch SS) Dolly auf den Markt, diesmal für den breiteren 120er Rollfilm wahlweise für 6x6 oder 4.5x6 große Negative (Variante A). Eine Variante B erlaubte die zusätzliche Verwendung von Glasplatten oder Filmpacks, auch das Objektiv ließ sich auswechseln und gegen ein Teleobjektiv eintauschen, was man ja bei Plattenaufnahmen per Mattscheibe fokussieren konnte. Die Topvariante C erlaubte gar Filmrückspulen, um zwischen all diesen Optionen beliebig wechseln zu können. Die absolute Krönung erfährt die Super Sport Dolly ab 1939 mit einem zusätzlich angebauten Entfernungsmesser.

Aber Certo hatte gleichzeitig auch das Kleinbildsegment im Blick: Mit der Dollina wird 1935 eine Kamera für den immer populärer werdenden Kleinbildfilm (135er) vorgestellt, auch sie erfährt bis zum Kriegsbeginn einiges an Innovatiion und Modellpflege. Andere Hersteller wie Welta oder Kochmann sind eine ähnliche Strategie gefahren, viele haben dem 127er aber den Rücken gekehrt und sich entweder auf den 120er Rollfilm (6x6, 4.5x6, 6x9) oder dem Kleinbildfilm konzentriert. 

Wie lange diese Dolly Vest Pocket am Markt war, konnte ich nicht abschließend klären. Ich vermute, dass ihre Produktion schon ca. 1935 eingestellt wurde, um sich ganz auf die Dollina zu konzentrieren. Die Restbestände wurden wohl weiter verkauft, Certo hat angeblich einen erklecklichen Teil exportiert. Da verwundert es nicht, dass sie in manchen Katalogen wohl noch bis ca. 1940 zu finden war.

Datenblatt Kompakte Faltbalgenkamera für Rollfilm 127 (4x6.5)
Objektiv C.Friedrich Corygon-Anastigmat 7.5 cm f/3.5 (Triplet, #168518), auch erhältlich mit Schneider Xenar oder Meyer Trioplan. Einfachste Version mit Certar f/4.5 im Vario-Verschluss.
Verschluss Compur (B) Zentralverschluss T-B-1-2-5-10-25-50-100-300 (#3014878), auch erhältlich mit Vario (T-B-25-100).
Fokussierung durch Frontlinsenverstellung, kürzeste Entfernung 1m.
Sucher faltbarer optischer Sucher, mit extra Markierungen für 3x4-Maske. In meinem Fall (wohl nachträglich) aufgemaltes Fadenkreuz.
Filmtransport mittel Drehrad an der Kameraunterseite. Zwei rote Fensterchen für 3x4 und 4x6 Betrieb (siehe Text).
sonst. Ausstattung ausklappbarer Standfuß für vertikalen Stand. 1/4'' Stativgewinde, Drahtauslöergewinde. 
Maße, Gewicht ca. 115 x 38 x 78 mm (zusammengefaltet), 381 g
Baujahr(e) 1932-1935?, diese #7494 laut Verschluss-# von 1934. 
Kaufpreis, Wert heute ca. 60-70 RM, ca. 50€
Links Camera-wiki, historiccamera, Reklame 1932, Dolly-Parade
Bei KniPPsen weiterlesen Fotofirmen in den 30ernDollina, 3x4-Halbformatkameras und ihr plötzliches Verschwinden