2022-02-27

Icarette


Einen sehr glücklichen Fang für meine Sammlung habe ich letzte Woche mit dieser Icarette gemacht, nach interner Seriennummer im Zeitraum von 1916 bis 1918 gebaut und damit ca. 105 Jahre alt. Ich habe mir noch kein komplettes Bild der damaligen Marktsituation machen können, diese war aber auf alle Fälle komplex und sehr interessant. Die Icarette I war wie die Vest Pocket Kodak eine frühe sehr kompakte Rollfilmkamera, die zusammengeklappt tatsächlich in eine Westen- oder Hosentasche passte. Dass sie mit  dem quadratischen 6x6 cm Negativ auf ein später sehr populäres Format setzte, konnten ihre Konstrukteure bei ihrem Erscheinen im Jahr 1912 noch nicht wissen, bescherte ihr selbst aber eine sehr lange Karriere bis hinein in die 1930er Jahre. Die Kamera verwendete Rollfilm 117 (Agfa B1), der nur 6 Bilder lieferte.
Der Rollfilm selbst (unabhängig von einigen verschiedenen Typen und Formaten) steckte Anfang des 20. Jahrhunderts noch in den Kinderschuhen und hatte durch allerlei technische Kinderkrankheiten mit einem schlechten Ruf zu kämpfen. Anfangs gab es ihn zusammen mit billigen Boxkameras wie der Brownie No.2 . Agfa stieg wegen Qualitätsproblemen nach nur kurzer Zeit 1905 aus der Produktion von Rollfilm aus, nur um 10 Jahre später (1915) wegen stark gestiegener Nachfrage wieder einzusteigen. Das war genau die Zeit der Icarette und anderer ähnlicher faltbarer Rollfilmkameras, die damals die Zukunft der Fotografie aufzeigten.

Es sollte allerdings bis zum Anfang der 1930er Jahre dauern, bis Roll- und dann die Kleinbildkameras die bis dahin vorherrschenden (Glas-)Plattenkameras auch bei anspruchsvollen Fotografen verdrängten. (Planfilme in speziellen Kassetten stellen sicher eine Übergangsform dar).
Hier kommt der andere Teil der Geschichte ins Spiel und das betrifft die deutsche Fotoindustrie am Anfang des 20. Jahrhunderts: Viele kleine unabhängige Firmen bauen jeweils unzählige Modelle sehr ähnlicher Plattenkameras und liefern sich gegenseitig einen ruinösen Wettbewerb. Das entscheidende High-Tech (Verschlüsse und Objektive) kommt jedoch nur von wenigen Spielern. Insbesondere die Zeiss Stiftung zieht im Hintergrund die Strippen und zwingt am Ende den Markt in die Konsolidierung. So entsteht von 1909 bis 1926 die Firma ICA („International Camera AG“), die spätere Keimzelle der Zeiss Ikon (ab 1926). Details kann man woanders nachlesen (siehe Links unten). ICA produzierte natürlich viele Plattenkameras-Konstruktionen ihrer Vorgängerfirmen weiter, allerdings wurden durch die gehobenen Synergien auch Resourcen frei, die man z.B. in die Icarette als das erste gemeinsame Projekt der ICA steckte. 
Meine Icarette ist für ihr Alter noch sehr gut erhalten. Der Compound Verschluss mit seinem Luft-pneumatischen Hemmwerk scheint noch klaglos zu funktionieren. Das Objektiv musste ich putzen, aber sonst ist nichts auszusetzen. Selbst Film würde man für das Schätzchen noch bekommen. Die Bedienung ist allerdings verglichen mit späteren Kameras noch sehr archaisch: Den Laufboden muss man recht fummelig von Hand ausziehen, wie bei vielen Plattenkameras halt. Das Hebelchen für die Blendeneinstellung hätte ich fast übersehen. Und warum Brilliantsucher so heißen, muss mir auch nochmal jemand erklären. 

Datenblatt Icarette I, Typ 495. Frühe kompakte Rollfilmkamera (6x6) mit Faltbalgen auf Laufboden für Rollfilm 117.
Objektiv Ica Novar 7,5 cm f/6.8 , Seriennummer 294710
Verschluss Compound Zentralverschluss, T-B- 1-2-5-10-25-50-100-250, Seriennummer 234262
Fokussierung durch Verschieben des Balgenauszugs, kürzeste Entfernung 1m
Sucher faltbarer Brilliantsucher, ausklappbarer Sportsucher.
Filmtransport mit Drehschlüssel, rotes Rückseitenpapierfenster.
sonst. Ausstattung Stativgewinde 3/8‘‘, Drahtauslöseranschluss
Maße, Gewicht ca. 72 x 125 x 25 mm, 397g 
Baujahr(e) 1912-1925, als Zeiss Ikon Kamera noch bis ca. 1934. Dieses Exemplar mit Seriennummer E20182 von ca. 1916-1918.
Kaufpreis, Wert heute ?, 30 €
Links Camera-Wiki, ICA Geschichte K. Ries, Wikipedia, Collectiblend, Oldcamera-Blog
Bei KniPPsen weiterlesen Kodak Junior No.1a, Hannibal Goodwin, Vest Pocket Kodak, Rollfilm 117

P.S. In einer früheren Version dieses Beitrags hatte ich behauptet, die Icarette würde 120er Rollfilm verwenden. Der passt tatsächlich wegen der breiteren Spule nicht in schlanke Kamera.

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