Die Ikonette 35 (Zeiss Ikon Nr. 500/24, nicht zu verwechseln mit der Ikonette 504/12 von 1928) ist eine ganz besondere Kamera aus Westdeutscher Zeiss Ikon Produktion aus dem Jahr 1958. Besonders war sie nicht wegen der eher bescheidenen technischen Spezifikation um den einfachen PRONTO-Zentralverschluss herum, sondern wegen drei Dingen, die sie von der Masse der damals produzierten Kameras abheben:
1) Ihr geschwungenes Design, entwickelt vom Hochschulprofessor Heinz Löffelhardt und seinem Schüler Hans Erich Slany. Damit passt sie perfekt in die sogenannte Nierentisch-Periode der 1950er.
Zum 3) ist die hauptsächliche Verwendung von Kunststoff als Gehäusematerial zu nennen. Damit ist jetzt nicht billiges und dünnes Plastik gemeint, wie man es später bei manch anderer Kamera zu sehen und fühlen bekam. Nein, bei der Ikonette wurden sowohl hellgrau (Außenteile) als auch schwarz gefüllte Duroplaste verpresst (Kunststoffdruckguss), die nicht nur widerstandsfähig sind, sondern auch satt und wertig in der Hand liegen. Lediglich die Rückwand ist aus gebogenem Blech, genauso wie die daran befestigte Filmandruckplatte, die übrigens nicht der Kurve folgt, sondern tatsächlich die Planlage des Films gewährleistet. Natürlich ist auch die ganze Mechanik aus Metall und die Linsen aus Glas, aber der Kunststoff macht schon schätzungsweise 2/3 der Kamera aus.
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Das Kameragehäuse besteht hauptsächlich aus schwarz- bzw. hellgrau gefülltem Duroplast-Kunststoff. Nur die Rückwand ist aus gebogenem Blech. |
Diese drei Dinge allein könnten sie für heutige Sammler interessant machen. Dazu kommt aber dann noch der eine oder andere Mythos um ihren nur zwei Jahre währenden Marktauftritt und die angebliche Vernichtung von zurückgekauften Kameras durch Zeiss Ikon selbst, was zu ihrer heutigen Seltenheit beigetragen haben soll. Ich bin ein skeptischer Mensch und glaube solche Dinge erst bei Vorlage von Dokumenten aus erster Quelle.
Man liest heute verschiedene Versionen: Angeblich war der Hauptgrund des Rückrufes mangelnde Lichtdichtheit, die nicht reparabel war. Es gibt aber einige Berichte von Kamerasammlern im Netz, die alle nicht zu beanstandende Testaufnahmen gemacht haben, von Lichtlecks also keine Spur. Für einen viel wahrscheinlicheren Grund halte ich die Spekulationen über das technisch anfällige Zusammenspiel zwischen Tempohebel und Verschluss, was bei Fehlbedienung zu defekten Verschlüssen geführt habe. Man liest tatsächlich von vielen Kameras mit nicht funktionierenden Verschlüssen, auch mein Exemplar ist ein solches.
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Stilecht kombinierbar mit dem Ikoblitz |
Aber hat Zeiss Ikon wirklich Kameras zurückgekauft und vernichtet? Ich glaube nicht wirklich daran. Ich denke, dass die Ikonette mit der oben genannten Kombination, die sie heute für uns Sammler interessant macht, damals kaum einen Käufer überzeugen konnte. Sie verkaufte sich also schlecht und war vermutlich mit ihren exzentrischen Features nicht so billig zu produzieren, wie man in einer solchen Situation wünschen würde. Sehr wahrscheinlich besaß ZI die Kunststoffpresswerkzeuge nicht selbst, sondern ließ das Gehäuse bei Partnerfirmen im Lohn herstellen.
Die Westdeutsche Zeiss Ikon befand sich in der zweiten Häfte der 1950er Jahre in einer Umbruch- und Findungsphase. Die endgültige Trennung vom Dresdener Firmenteil manifestierte sich spätestens ab 1954, man hatte trotzdem den Ansproch ein Vollsortimenter zu sein und produzierte Kameras für alle Segmente. Die Zeit der Balgenkameras ging langsam vorüber, bei den Kleinbildkameras liefen die entsprechenden Contina- und Contessa 35-Serien 1953 bzw. 1955 aus, auch um Platz für die Contaflex in der Produktion zu machen. Eine einfache und relativ preiswerte Kleinbildkamera fehlte noch im Programm.
In diese Lücke stieß man 1958 mit der Ikonette und hat wohl zu viel auf einmal geändert. Der viele Kunststoff, die außergewöhnliche Farbe und die Nierenform haben vermutlich traditionelle Kamerakäufer abgestoßen und davon abgehalten, eine ansonsten doch relativ einfache Kamera zu kaufen. Auch die eigentliche technische Innovation, der kombinierte Auslöser und Schnellschalthebel hat nicht wirklich einen Vorteil gegenüber damals aufkommenden Schnellschalthebeln im Zusammenspiel mit separaten Auslösern.
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Die Ikonette 35 im Vergleich zu wichtigen Ahnen, Wettbewerbern und Nachfolgern: Kochmann Korelle K (1932, erste europäische Kamera mit Kunststoff-Gehäuse); Zeiss Ikon Tenax 1 (1939, erste Kamera mit Schnellschalthebel rund ums Objektiv); Penti (Kategorie Damenkamera); Zeiss Ikon Contessa 35 (so sahen die Sucherkameras von Zeiss Ikon in den 1960ern aus). |
Ich habe also nach Belegen für die Rückkaufthese gesucht und bisher keine gefunden. Stattdessen habe ich mir mal die bekannten Seriennummern angeschaut. Die Basis ist zwar klein, aber ich habe bisher nur Nummern gefunden zwischen S-74xxx und S-96xxx. Das spricht für nur eine oder maximal zwei Produktionskampagnen von insgesamt ca. 20 bis 30-Tausend Exemplaren, vermutlich innerhalb weniger Monate zu erledigen. Die haben dann wohl wie Blei in den Fotoläden gelegen und Zeiss Ikon hat einfach keine weitere Kampagne mehr gemacht. Ab 1960 gab es dann die eher traditionell gestaltete neue Contessa 35 Serien, mit der ZI endlich den Zeitgeist traf und der Konkurrenz etwas entgegensetzen konnte. Die Ikonette wurde klammheimlich aus den Katalogen entfernt und ist deshalb relativ selten, weil sie einfach wenig produziert wurde.
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Für mich als Sammler ist sie natürlich ein Glücksfall, weil sie was Besonderes hat. Und dann natürlich die thematische Verwandtschaft zu einigen andern Kameras aus meiner Sammlung (siehe GIF oben). Leider ist mein Exemplar wie gesagt defekt, der Verschluss hakt. Ich habe ein paar halbherzige und letztlich erfolglose Reparaturbemühungen unternommen, die allerdings meine Neugier bzgl. des Kamerainneren befriedigt haben. Äußerlich ist sie - wie man an den Fotos sieht - in einem sehr guten Zustand, der Kunststoff kann schon was ab, lediglich das graue Kunstleder auf der blechernen Rückwand ist leicht verschmutzt. Wie immer ist jeder Kommentar zur Kamera willkommen, insbesondere natürlich zu ihrem kurzen Marktauftritt und den oben erwähnten Mythen. Wer eine andere Seriennummer kennt, immer her damit!
Datenblatt | Einfache Kleinbild-Sucherkamera aus Kunststoff |
Objektiv | Novar 45 mm f/3.5 (Triplet) |
Verschluss | Pronto-Zentralverschluss (B-25-50-100-200). Es sind auch Kameras bekannt mit der modernen Zeitenskala B-30-60-125-250, technisch das Selbe... |
Fokussierung | Manuell per Frontlinsenverstellung, minimal 0.90 m. Keine Scharfstellhilfe. |
Sucher | Einfacher optischer Sucher mit roter Fahne, die die Notwendigkeit zum Filmtransport anzeigt. |
Blitz | Anschluß per Kabel und PC-Buchse. |
Filmtransport | Mittels "Tempohebel" (gleichzeitig Auslöser), gekoppelt mit Verschlussaufzug, Rückspulrad, Bildzählwerk (vorwärts). |
sonst. Ausstattung | Haken für Kameragurt. Eingelassener Zubehörschuh, Drahtauslöergewinde, Stativgewinde 1/4'', Selbstauslöser |
Maße, Gewicht | 130 x 76 x 70 mm, 424 g |
Baujahr(e) | 1958-1960, vermutlich nur ca. 20,000 bis 30,000 Exemplare, dieses #S-74538 von 1958. |
Kaufpreis, Wert heute | 89 DM, 29.95 US$ (1959), heute je nach Zustand und Zubehör 50-200 € |
Links | Camera-Wiki, Pacific Rim Camera, Mike Ekman, Engel-Art, Nocsensei (ital.), Camera Manual (english), Wolfgang Bongardt, |
Bei KniPPsen weiterlesen | Nachkriegskameraproduktion in Deutschland, Korelle K, Zeiss Ikon Tenax 1, Contessa 35, Contaflex, Penti, Werra |