2023-11-19

Braun Paxette electromatic II

Die Paxette electromatic II war Braun's klammheimliches Eingeständnis an Agfa, dass die Optima mit ihrer Interpretation von Vollautomatik ein Volltreffer war und die eigene erste electromatic am Kundenwunsch vorbei geplant war. Der Rechtsstreit mit Agfa über die Verwendung des Begriffs vollautomatisch war verloren und auch die Kunden hatten trotz des deutlich höheren Preises sich für die teurere, weil bessere Kamera entschieden. 
Erste "wirklich vollautomatische" Kamera (electromatic, links) 
 neben Braun's erster richtiger vollautomatischer Kamera. Die jüngere
rechts ist bei sonst gleichem Gehäuse ein paar Milimeter höher.   
Auch wenn die Zielgruppe der electromatic (I) die fotografischen Laien waren, so ließen sich diese doch nicht für dumm verkaufen. Ein im Zweifel unscharfes Fixfokus-Objektiv sowie Fehlbelichtungen wegen des nur knapp 5 Lichtwertstufen großen Belichtungsspielraums sind halt starke Argumente gegen die erste Version der electromatic
Bei dieser zweiten Version, die dann 1960 endlich in die Läden kam, machten die Braun-Ingenieure dann alles richtig. Es gab ein lichtstärkeres Objektiv (Rodenstock-Ultralit** 2.8/40), das jetzt auch fokussiert werden wollte, wofür neben den üblichen Meter- und Feet-Skalen noch zwei Symbole (Gruppe, Portrait) vorhanden waren, bei denen es sogar einrastete. Die Entfernung zum Objekt musste allerdings geschätzt werden, immerhin gab es um das Objektiv herum eine gut abzulesende Tiefenschärfeskala. Und, Braun setzte nicht mehr auf die eigene (preiswerte) Implementierung der automatischen Blendensteuerung, sondern kaufte Vollautomatik in Form des Prontormat-S-Verschlusses von Gauthier zu. 

Blick durch den Sucher mit Leuchtrahmen und
Parallaxenmarkierung. Ganz oben wird die vom
belichtungsmesser ermittelte Zeit-Blenden-Kombi
eingespiegelt, ändern kann amn daran nichts.
Es handelt sich um einen Lichtwertverschluss, der ein festes Programm von Blenden- und Zeitkombinationen abfährt und mit einem einzigem, dem gemessenen Lichtwert entsprechenden Steuersignal auskommt. Wenn der Verschluss gespannt ist und auf der Wahlstellung "Auto" steht, kann man (mit ein bisschen Augen verrenken) am oberen Rand des sehr großen und hellen Sucherbildes die vom Belichtungsmesser gewählte Zeit-Blendenkombination ablesen. Das Drehspulelement bewegt dazu eine transparente Folie, deren eingeprägte Zahlen entsprechend in den Sucher eingespiegelt werden. 
Die Filmempfindlichkeitseinstellung (10-400 ASA, bzw. 11-27 DIN) gelingt mit einem kleinen Drehrädchen und verstellt das gesamte Drehspulelement, wirklich pfiffig gelöst. Ob jetzt der Verschluss tatsächlich das sinnvoll gestufte Programm dieser festen Zeit-Blenden-Kombinationen benutzt, oder eher der im Diagramm gestrichelten kontinuierlichen Linie folgt, konnte ich an meinem Exemplar nicht zweifellos klären. Ich vermute eher ersteres, da auch beim manuellen Einstellen der Blende  (dazu gleich mehr) diese sich in Stufen verstellt. 

Im Sucher angezeigtes Programm des Prontormat-S
Lichtwertverschlusses. Mit über 10 Lichtwertstufen 
und den gewählten Stufen ist dieser sehr praxistauglich.
Der Verschluss kennt neben der automatischen Lichtwert-Steuerung (Stellung des Drehrings um das Objektiv mittig auf "Auto") noch zwei manuelle Modi. Dreht man den Ring eine Drittel-Drehung nach rechts gelangt man zu "B", dargestellt durch eine grüne Blendenskala von 2.8-22. Dreht man 120° nach links, kommt eine entsprechende rote Blendenskala zum Vorschein, begleitet durch die Blitz-Verschlusszeit, vermutlich 1/30s. 
Damit wird auch klar, dass es zwei Sätze von jeweils 5-Lamellen gibt, die eigentliche Blende liegt dabei direkt hinter den Verschluss-Lamellen. Das ist nicht selbstverständlich, gibt es doch spätere Automatikverschlüsse, die nur einen Satz Lamellen verwenden und jeweils nur bis zur gewünschten Blende öffnen.   
Interessanterweise gibt es bei der Kamera keinen Mittenkontakt (Hot-Shoe) mehr, sondern eine gewöhnliche Blitzbuchse. Ob auch hier Braun den Kunden so viel Innovation nicht zumuten wollte, oder ob die Verlegung des Kabels in die Deck-Kappe einfach technisch zu komplex war? Vielleicht beides.
Die Paxette electromatic II neben der mehr als ein Jahr früher erschienenen Agfa Optima, deren technische Spezifikation sie im Wesentlichen teilt. Die Braun hat den besseren Sucher, ist deutlich kompakter und läßt sich mit einer Hand bedienen, während die Agfa den linken Zeigefinder für die magische Taste und den rechten zum Auslösen braucht. Die Optima erreichte von 1959 bis 1961 und einem Preis von 238 DM ca. eine halbe Million Kunden, während die electromatic II bei 297 DM wohl nur ca. 10-20 tausendmal gekauft wurde. 

Die "II" ist (außer der Luxusversion der "I" mit Krokodilleder) vermutlich die seltenste der gesamten electromatic-Serie. Neben der II gab es parallel noch die ähnlich gut ausgestattete electromatic III, die mit dem Prontormatic-Verschluss (1/30 bis 1/500 s) ausgestattet war, der volle manuelle Einstellung erlaubte und alternativ die automatische Blendensteuerung nach Zeitvorwahl anbot. Ich stütze meine Vermutung auf der Tatsache, dass man heute mehr IIIer als IIer auf dem Gebrauchtmarkt (ebay) zu sehen bekommt. Es gab übrigens noch eine abgespeckte electromatic IIs genannte Version, die das bekannte Fixfokus 5.6/40 mm Objektiv, aber sonst die gleiche Funktionalität wie die II hatte. Was das sollte, bleibt mir schleierhaft, vielleicht mussten die auf Lager liegenden Fixfokus-Objektive weg...? 


Mit meinem Exemplar habe ich ein echtes Schnäppchen gemacht. Während der Recherche zur electromatic (I) lief sie mir über den Weg, ich habe mal 10 € (inkl. Versand!) geboten und den Zuschlag bekommen. Sie war allerdings als defekt beschrieben, der Verschluss klemmte. Ich habe allerdings keine 10 Minuten gebraucht, um das wieder hinzukriegen. Die beiden Frontglieder vom Objektiv lassen sich recht einfach entfernen, mit einem Wattestäbchen und etwas Waschbenzin löste sich der mit den Jahrzehnten verklebte Verschluss schnell. Zu meiner Freude funktioniert der Selenbelichtungsmesser noch sehr passabel, die angezeigten Lichtwert-Kombinationen stimmen. Allerdings habe ich immer noch Zweifel an der richtigen Blendeneinstellung im Automatik-Modus, mal sehen, ob ich mich hier nochmal dranmache. Ansonsten zeigen die Fotos den Top-Erhaltungszustand. Vermutlich hat sie die letzten 50 Jahre meist im Dunkeln und geschützt in einer Bereitschaftstasche zugebracht.

Datenblatt kompakte Kleinbildkamera mit Belichtungsautomatik 
ObjektivRodenstock-Ultralit** 40 mm f/2.8, vergütetes Triplet (?)
Verschluss Prontromat-S von Gauthier, Lichtwert-Zentralverschluss 1/30 -1/300 s, B, Blitzsynchronzeit 1/30s. 
Belichtungsmessung Bertram Selen Belichtungsmesser, Trap-Needle-Lichtwertautomatik LW 8  bis 17.5, Filmempfindlichkeit 10-400 ASA, bzw. 11-27 DIN.
Fokussierung Frontlinsen-verstellung manuell, minimale Entfernung 1 m. Einrastende mit Symbolen markierte Entfernungen für Gruppe und Portrait.
Sucher Großer optischer Sucher mit Leuchtrahmen. Einspiegelung der Zeit-Blenden-Kombination, roter Balken bei zu wenig Licht.
Blitz PC-Buchse, kein Mittenkontakt im Zuberhörschuh.
Filmtransport Schnellschalthebel (Ein Schwung pro Bild), ähnlicher Hebel auch zum Rückspulen. Bildzählwerk (rückwärts)
sonst. Ausstattung Zubehörschuh, Stativgewinde 1/4‘‘, keine Gurtösen, Drahtauslösergewinde, Tiefenschärfeskala am Objektiv
Maße, Gewicht ca. 111x88x60 mm, 671g
Baujahr(e) 1960-1964 ca. 20,000 Exemplare, s. Text. Diese hier #467645 von 1962
Kaufpreis, Wert heute297 DM, heute je nach Zustand 40-60€.
Links Camera-WikiBraun Kameraliste, Collection appareils
Bei KniPPsen weiterlesen Geschichte der Belichtungsautomatik, Geschichte des heißen Schuhs, Agfa OptimaLichtwertverschluss, Braun Paxette Ib, Braun Paxette Automatic Super III, Braun Colorette Super IIL

**Ultralit scheint eine Marke von Braun selbst zu sein. Es gibt neben diesem von Rodenstock auch von Enna und Staeble hergestllte Braun-Objektive dieses Namens als auch später (Projektions)Objektive ohne Herstellerbezeichnung.

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