"Allerweltskameras" sind in vielen Kamerasammlungen meist unterrepräsentiert, einfach weil sie nichts Besonderes an sich haben. Wenn man aber sich mit ihnen etwas beschäftigt, können auch sie eine Geschichte erzählen. So ist es mir mit dieser Beier Precisa gegangen, auf die ich in einem spontanen Moment einfach mal 10 € geboten haben. Nach ihrem Zustand und Erscheinungsbild dachte ich eine Vorkriegskamera "geschossen" zu haben, lag aber daneben ...
Solche Faltbalgenkameras für Rollfilme haben im Laufe der 1920er und 1930er Jahre das Erbe der Laufboden-Plattenkameras angetreten, deren Grundprinzip sie übernommen haben: Sie ließen sich durch den Balgen zusammenklappen und so leicht transportieren. Die wesentliche Technik sitzt vorne im Zentralverschluss bzw. im Objektiv. Das Rollfilmhandling selbst ist relativ simpel, ein einfacher Drehknopf genügt, der Filmvorschub wird über das rote Filmfensterchen auf der Rückseite kontrolliert.
Es gab sie in fast identischer Ausführung von fast allen Kameraproduzenten in unterschiedlichen Modellen, viele Hersteller hatten zumindest in der Frühzeit identische Kameras für verschiedene Rollfilm-Formate (z.B. 6.5x11, 5x7.5, 6x9) im Programm. Das konsolidierte sich ab ca. 1933 : Der 120er (bzw. 620er) Rollfilm und die rechteckigen Formate 6x9 und 6x4.5 setzten sich als Standard durch. Daneben gab es noch einige Zeit den kleinen Bruder 127 (für 4x6.5 und 3x4).
Das Format 6x6 (auf 117 Rollfilm) wurde meines Wissens mit der Icarette schon 1912 eingeführt. Diese war als wirklich kompakte Taschenkamera recht erfolgreich, fand aber zunächst nur wenig Nachahmer. Das quadratische Format erlangte durch die Rolleiflex (und ihre Klone) ab 1928 wieder vermehrt die Aufmerksamkeit und Akzeptanz der Fotografen, es dauerte aber ein paar Jahre bis ab ca. 1936/1937 auch Faltbalgenkameras von verschiedenen Herstellern dafür auf den Markt kamen. Einige waren wie die Icarette als horizontale Konstruktion ausgeführt (die Frontklappe geht nach unten auf), ein prominentes und langfristig sehr erfolgreiches Beispiel war die Agfa Isolette. Andere waren vertikale Modelle, quasi verkürzte Ausführungen der üblichen 6x9-Konstruktion. Dazu zählten z.B. die Weltax, die Baldax und eben diese Beier Precisa, die 1937 auf den Markt kam. Durch Einlegen einer Maske und ein zweites rotes Fensterchen konnte man sie auch für das zunächst populärere Rechteckformat 6x4.5 nutzen.
Einen wahren Boom erlebten die 6x6 Kameras dann aber nach dem Krieg in den 1950er Jahren. Insbesondere in Westdeutschland wurden 100-tausende davon verkauft, siehe meine Isolette II oder die Adox Golf. Aber auch in der DDR wurden die jeweiligen Vorkriegsmodelle wieder aufgelegt und noch gut verkauft.
Beier Kameras ziert oft ein handschriftliches Produktionsdatum unter der Filmandruckplatte. |
Über das Kamerawerk Woldemar Beier habe ich ja schon im Zusammenhang mit der Beira geschrieben. In der Nachkriegszeit versuchte man zunächst, so gut es im Sozialismus möglich war, als privatwirtschaftlich geführtes Unternehmen zu überleben. Man kam aber nicht mehr an Hochleistungsverschlüsse (aus Westdeutschland) und war auch bei der Objektivauswahl nicht mehr frei (Carl Zeiss Jena war staatlich). Daher kooperierte Beier mit zwei anderen (eher) privatwirtschaftlich geführten Unternehmen aus ihrer Region: Die Gebrüder Werner ("GW") aus Tharandt lieferten die einfachen Automatverschlüsse (Junior oder Binor) ins nur wenige Kilometer entfernte Freital, die Objektive kamen von E. Ludwig aus Weixdorf auf der anderen Seite von Dresden. Alle drei Unternehmen ereilt in den 1960er und 1970er Jahren das selbe Schicksal: Sie werden sukzessive immer abhängiger vom planwirtschaftlich agierenden Staat. Aus Beier wird 1972 die VEB Kamerafabrik Freital, der auch der andere Freitaler Kamerabauer Pouva und die VEB Fotoverschlüsse Tharandt (GW) sowie das Optische Werk Ernst Ludwig eingegliedert werden. 1980 gehen alle zusammen schließlich im VEB Pentacon auf. Von den Rollfilmmodellen Beirax (6x9) und der Precisa (6x6) sollen bis Ende der 1950er insgesamt 161.000 Stück verkauft worden sein. Respekt! In den 1960ern geht die Zeit für Rollfilmbalgenkameras aber zu Ende. Bei Beier schlägt die Stunde der Kleinbildkamera Beirette.
Datenblatt | Vertikale Faltbalgenkamera für 6x6 und 4.5x6 auf Rollfilm 120 |
Objektiv | E. Ludwig Meritar 75 mm f/3.5 (Triplet, vergütet). Frühe (Vorkriegs-) Kameras haben auch Schneider Xenar oder Rodenstock Trinar 75 mm f/2.9. |
Verschluss | GW (Gebrüder Werner, Tharandt) Junior-Automatverschluss B-100-50-25. Vorkriegskameras auch mit Compur oder Pronto II Spannverschluss. |
Fokussierung | Manuell durch Frontlinsenverstellung, minimal 1m. Keine Scharfstellhilfe |
Sucher | optischer Aufklappsucher. Vorkriegskameras haben diesen auf der "Unterseite". |
Blitz | Synchronbuchse am Verschluss. |
Filmtransport | mittels Drehrad, verschließbare rote Rückseitenpapierfenster für beide Formate. |
sonst. Ausstattung | Gehäuseauslöser inkl. Drahtauslösergewinde, 3/8'' Stativgewinde. Leder-Trageschlaufe. |
Maße, Gewicht | ca. 136x84x44 mm, 509 g (zusammengeklappt) |
Baujahr(e) | 1937-1941 und wieder 1950-1956. Diese hier vom 20.10.1955 (siehe Bild) |
Kaufpreis, Wert heute | ca. 60 RM (1938), ?? Mark/DM (1955), je nach Zustand heute 10-30€ |
Links | Bedienungsanleitung, Dresdner Kameras, Zeissikonveb (Meritar), Beier- Kameras.de, Camera-wiki (Beier), Camera-wiki (Ludwig), Camera-Wiki (Werner), |
Bei KniPPsen weiterlesen | Kodak Vollenda 620, Certo Dolly, Baby-Ikonta, Folding Cameras und die vielen Links im Text. |