2022-04-10

Witt Iloca Electric


Hinter ihr war ich schon länger her! Nicht nur weil sie in meine Sammlung von DKL-Kameras passt, sondern weil sie eine Meilensteinkamera ist: Die erste Kleinbildkamera mit elektromotorischem Filmtransport (und Verschlussaufzug). Außerdem stammt sie aus relativ unbekanntem Hause, dessen Geschichte auch nicht ganz uninteressant ist. Natürlich hätte ich sie hier gerne mit ihrem Originalobjektiv präsentiert, aber leider gibt es viel zu viele sogenannte "Sammler", die ganz bewusst die Objektive von den Kameras trennen, einfach weil mit ersteren mehr Geld zu machen ist. Insbesondere, wenn, wie im meinem Fall hier, die Kamera defekt ist und keinen Mucks mehr tut (außer schön auszusehen). Ich habe guten Grund zur Annahme, dass es sich beim Objektiv, mit dem die Kamera ausgeliefert wurde, um ein Rodenstock Iloca-Heligon 50 mm f/1.9 handelt. Mit dem Objektiv zusammen hätte ich mir den Spaß hier allerdings nicht leisten wollen.
Aber vielleicht verirrt sich ja mal das preiswertere Standard-Objektiv Rodenstock Ysarex 50mm f/2.8 zu mir und komplettiert die Kamera. Oder ich modifiziere eines meiner anderen DKL-Objektive bzw. feile an der Kamera die kleine Nase im Bajonett weg, um alle DKL-Objektive ansetzen zu können.

Die Kamera selbst ist ein echtes Design-Juvel. Der Elektromotor sitzt in der Filmaufwickeltrommel unterhalb des Suchereinblicks (s. Bild links). Die zwei (auch heute noch) handelsüblichen AA-Batterien finden im Kameraboden Platz und sollen angeblich für bis zu 1500 Fotos (also ca. 40 Filme) gereicht haben. Die ganze Kamera wirkt wohl proportioniert, ist aber wegen der Unterbringung von Motor und Batterien für eine Kleinbildkamera recht groß und auch schwer geraten. Sie hat ungefähr die Dimensionen einer Agfa Isolette, und die macht immerhin 6x6 cm große Negative. 

Aber ansonsten hat die Iloca Electric (bzw. ihr US-Exportmodell Graflex Graphic 35 Electric) alles, was sich der Fotoamateur im Jahre 1959 wünschen konnte: einen hellen Messsucher für ein 35 mm Objektiv mit eingespiegelten Leuchtrahmen für 50 mm und 135 mm. Hochwertige Wechselobjektive von Rodenstock oder Steinheil und einen eingebauten Selen-Belichtungsmesser, kombiniert mit einer elegant gelösten Nachführ-"Automatik". Damit und mit ihrem Alleinstellungsmerkmal Elektromotor zielte sie auf die Spitze des Marktsegmentes Kleinbild-Sucherkameras und rief entsprechende Preise auf (einen Preisvergleich mit anderen Top-Kameras findet sich hier). 


Ob man jetzt tatsächlich einen Elektromotor, der 1 Bild pro Sekunde schafft, braucht oder nicht, ist sicherlich Geschmackssache. 1959 allerdings kam jede Menge Innovation in die (Kleinbild-) Kameras (z.B. das Zoom) und Elektr(on)ik war ebenfalls en vogue. Ich habe hier ja schon die andere exotische DKL-Kamera von 1959 vorgestellt, die sich auch der Elektrik verschrieben hatte: Wirgin Edixa Electronica. Aber bei dieser ging es um eine echte Belichtungsvollautomatik, die mit der Agfa Optima ebenfalls 1959 auf dem Markt erschien. Und interessanterweise ist mit solch einer Automatik das Ende der Firma Witt verbunden, so dass die Iloca Electric ihr letztes Modell bleiben sollte...

Aber der Reihe nach: Das Iloca Camerawerk wurde ca. 1947 von A. Walter Illing in Hamburg als technische Werkstatt gegründet. Die erste Kamera hieß entsprechend Ilca ("Illing Camera"), was aber vermutlich zu Nahe an ICA war, so dass Zeiss Ikon entsprechend erfolgreich einsprach. Ab ca. 1950 hießen die Kameras dann Iloca, in diesem Jahr übernahm auch der Hamburger Kaufmann Wilhelm Witt die Firma und es folgte ein Jahrzehnt eines sehr steilen wirtschaftlichen und insbesondere technologischen Aufstiegs. War die Iloca I von 1950 noch eine sehr einfache Kamera, so spielte man am Ende des Jahrzehnts schon in der ersten Liga mit (eben mit der Electric hier). Schlüssel des Erfolgs war natürlich immer neue Innovation (Schnellschalthebel, eingebaute Belichtungsmesser, etc.), aber auch einen guten Draht zum Exportmarkt USA. Obwohl die Firma nie besonders groß war (200 Angestellte am Ende), war man stolz die wesentlichen Schlüsseltechnologien zum Kamerabau im eigenen Hause zu haben und damit relativ unabhängig von Zulieferern zu sein und wesentliche Teile der Wertschöpfung selbst zu machen. Aber ganz unabhängig war man als kleiner Spieler eben nicht. Bei den Objektiven kooperierte man mit ISCO und später Steinheil, die hochwertigen Verschlüsse bezog man ab Mitte der 1950er ausschließlich von Fr. Deckel (Compur) und das sollte sich letztendlich als fatal erweisen.

Der nächste Technologieschritt war im Jahr 1959 schon fertig entwickelt und fest eingeplant in die Produktion. Die Kamera sollte Iloca auto-electric heißen (hier ein Foto des Prototypen von einer Auktion), basierte auf der Electric (eingebauter Motor), hatte aber ein fest eingebautes Objektiv und eine Trap-Needle Blendenautomatik. Zentrales Bauelement war der Compur-automat Verschluss, von dem Iloca bei Deckel am 22. Mai 1959 3200 Stück zum Einzelpreis von 16,50 DM bestellte (eintreffend im August und September). Aber es passierte: Nichts! Sprich: Deckel lieferte einfach nicht und riss das Iloca Camerawerk damit in die Insolvenz, die Anfang April 1960 vollzogen wurde. Witt hatte alles auf eine Karte gesetzt und die Produktion nicht-motorisierter Kameras auslaufen lassen. In Q4-1959 und in den ersten Monaten von 1960 wurden noch wenige Tausend Electric produziert (siehe unten), aber deren Markt war wegen des hohen Preises gedeckelt, und die vorhandenen Teile dafür endlich. 

Witt zeigte Deckel und deren Mutterkonzern Carl Zeiss wegen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung an, letztendlich zu spät für die Firma. Ob es eine Entscheidung dazu gab und später eine gewisse Entschädigung gezahlt wurde, konnte ich nicht rausfinden. Aber es macht Sinn: Iloca muss als kleiner David mit seinem Vorstoß in die technologische Elite die Großen der Branche (insbesondere Zeiss Ikon) gehörig geärgert haben. Zeiss hatte im Jahr 1958 nicht nur die volle Kontrolle über Friedrich Deckel übernommen, sondern seit 1956 auch bei Voigtländer das Sagen. Vielleicht hatte man ja der Familie Witt auch ein Übernahmeangebot gemacht, was abgelehnt wurde? Nun, alles Spekulation. Jedenfalls hat Witt nach der Insolvenz die fertig entwickelte auto-electric an Agfa verkauft, die sie nach Agfa-Anpassungen als Selecta-m 1962 auf den Markt brachten. Manche schreiben, Agfa hätte die Firma von der Familie Witt übernommen, was vermutlich falsch ist. Die 200 Angestellten und Arbeiter in Hamburg wurden schon Anfang April 1960 endgültig nach Hause geschickt (siehe der Zeit-Artikel vom 8.4.1960). Agfa hat lediglich Verschiedenes aus der Konkursmasse übernommen, insbesondere die Konstruktionszeichnungen, speziellen Werkzeuge und Elemente für die auto-electric.

Datenblatt Erste Kleinbildkamera mit elektromotorischem Filmtransport
Objektiv DKL-Wechselfassung (Typ Iloca). Standard-Objektiv Rodenstock-Iloca-Ysarex 50 mm f/2.8 oder Rodenstock-Iloca-Heligon 50 mm f/1.9. Weitere Objektive von 35 bis 135 mm erhältlich von Rodenstock und Steinheil. DKL-Objektive anderer Typen nach Anpassung verwendbar. 
Verschluss Compur-Rapid Hinterlinsen-Zentralverschluss. B-1-2-4-8-15-30-60-125-250-500 1/s. 
Belichtungsmessung Mittels Selenzelle, Blendennachführung nach Verschlussvorwahl mittels Drehrad unter dem Objektiv. Zeiger auf dem Kameradeckel und im Sucher ablesbar.  DIN/ASA-Einstellung 10-5000 ASA.  
Fokussierung Manuell am Objektiv. Gekuppelter Messsucher mit Parallaxenausgleich.
Sucher Heller optischer Sucher (35 mm Feld) mit eingespiegelten Leuchtrahmen für 50 und 135 mm. Zeiger des Belichtungsmessers am oberen Bildrand sichtbar.
Blitz Anschluss über PC-Buchse, umschaltbar X und M. 
Filmtransport Mittels eingebautem Elektromotor, ca. 1 Bild/sec. Serienaufnahmen möglich. Rückspulen mit Handkurbel. Bildzählwerk (rückwärts).
sonst. Ausstattung Zubehörschuh (kalt), 1/4'' Stativgewinde. (Tragriehmenösen fehlen!)
Maße, Gewicht ca. 93 x 130 x 62 mm, 753g (nur Gehäuse), ca. 1100 g mit Objektiv und Batterien.
Batterie 2 x AA (3 V). 
Baujahr(e) Q2-1959 bis Q1-1960, < 5000 Exemplare (inkl. Graflex Graphic 35 Electric), diese # 80 0085 259 ca. April 1959.
Kaufpreis, Wert heute ca. 600 DM (mit 1.9/50, 1959, entspr. ca. 1500€ heute), >500 € für funktionierende Kamera mit Objektiv, ca. 100-200€ für defekte Kamera.
Links Camera-Wiki, Bedienungsanleitung (english)CJS Classic Cameras, Iloca.weebly.com, Bleckedermoor.de, Collection-Appareils.fr, Graflex-Journal, Electric Innenleben und Umbau (Flickr Stream), Zeit-Online Artikel über Witt's Insolvenz
Bei KniPPsen weiterlesen DKL-Bajonett (und alle Links dort), Konica FS-1 (eine andere erste Motorkamera), 111 Jahre Compur, Durst Automatica (ähnliche Zeit, ähnlicher Fall), Robot (Motorisierung mit Federmotor)

Einige Bemerkungen zu den Seriennummern, die ich mir natürlich genau angeschaut habe. Zum Glück gab es da schon bei CJ's classic cameras eine solide Vorarbeit. Die Seriennummern bestehen aus drei Blöcken, wobei der erste Block bei der Electric stets "80" ist. Dann folgt im zweiten Block eine 4-stellige fortlaufende Zahl, die eigentliche Seriennummer, und als letzter Block ein Zeitstempel im Format QJJ. Im Netz gefunden habe ich folgende Nummern: 80 0054 259, 80 0085 259 (diese hier), 80 0236 259, 80 0701 359, 80 3213 459, 80 3414 459 (alle bisher als Iloca Electric), dann als Graphic 35 Electric: 80 1743 459, 80 2116 459, 80 2293 459, 80 2436 459, 80 2532 459, und 80 4615 160. Ich folgere also (vielleicht voreilig), dass die ersten ca. 1000 Exemplare im (späten?) Q2 und frühen Q3-1959 gebaut wurden und allesamt als Iloca gelabelt wurden, dann sehe ich eine "Sommerpause", was ganz gut zur Misere mit der auto-electric passt. In Q4-1959 wurde dann der Großteil (ca. 2500) der Kameras gebaut und zwar sowohl für die USA als auch für den hiesigen Markt. Vielleicht noch 1000 wurden dann noch im Q1-1960 gebaut, Schluss war ja am 1.4.1960. Wer noch weitere Nummern beisteuern kann, bitte hier unten als Kommentar oder per e-mail an KniPPsen (at) icloud.com. 


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