2024-09-25

Compur Verschluss mit fünfstelliger Seriennummer - Compur shutter with 5 digit serial number

Über den Compur-Verschluss selbst und die zugehörige Seriennummer-Sequenz habe ich ja schon mehrfach geschrieben (hier und zuletzt hier). Mein Sammlerkollege Attila hat mir gestern morgen dort einen Kommentar hinterlassen und über seinen Compur mit der fünfstelligen Seriennummer #70009 berichtet. Ich war natürlich gleich hellwach, steht doch bisher in allen Internet-Quellen, dass die Compur Zählung bei ca. 214.000 und im Jahre 1912 anfängt.  Ich habe ihn gebeten, mir (und damit der Sammel-Community) die entsprechenden Bilder dazu zur Verfügung zu stellen, hier sind sie. 

Bevor ich mich an Erklärungsversuche mache, zunächst die anderen Fakten und noch ein bisschen mehr Hintergrund-Recherche. Es handelt sich um einen Rädchen-Compur ("Dial-set") der Größe #0 mit der minimalen Verschlusszeit von 1/200 s. Darin gefasst ist ein Meyer-Görlitz Doppel-Anastigmat Helioplan 13.5 cm f/4.5 mit der Seriennummer #404208, die auf ca. 1930, evtl. etwas davor zeigt. Eine Kamera ist zu der Kombination nicht mehr vorhanden, vermutlich handelte es sich um eine Laufbodenkamera für das Format 9x12, wie z.B. meine Agfa Isolar. Das äußere Erscheinungsbild des Verschlusses gleicht bezüglich Lackierung, Material und Beschriftung anderen Compur-Verschlüssen  aus den späten 20er und frühen 30er Jahren. Aus dieser Zeit sind die allermeisten dieser Verschlüsse bekannt, und sie haben (fast) alle hohe 6-stellige Seriennummern. Bei einer kurzen dezidierten Suche nach fünstelligen Compur-Nummern ist mir noch ein anderer über den Weg gelaufen, auch mit Foto, diesmal ist es die #11443 auch an einer Kamera vom Ende der 1920er Jahre. 


Jetzt könnte man natürlich das Naheliegende annehmen: Warum sollte es eigentlich keine frühen fünfstelligen Seriennummern geben, also ca. für die Jahre 1910 oder 1911? Das Patent (mit der unter dem Objektiv angegebenen Nummer 258646) stammt aus dem Juni 1910, das wäre der Startpunkt. Ich finde, die Indizien sprechen dagegen:
  • Wenn es so wäre, müßten eigentlich noch Kombinationen solcher Verschlüsse existieren mit Kameras und oder Objektiven, die nachweislich den frühen Vorkriegsjahren 1910-1914 zugeordnet werden können.
  • Der technische Fortschritt oder schlicht Geschmacksfragen sollten sich in kleinen Detailunterschieden zwischen den frühen Verschlüssen und den nachweislich am Ende der 20er Jahre produzierten zeigen. 
Daher postuliere ich mal folgendes: 
  • Die Verschlüsse mit den fünfstelligen Seriennummern stammen vom Ende der 1920er Jahre. Ich gehe weiterhin davon aus, dass die ersten Compurverschlüsse mit der Seriennummer 214xxx starten und Deckel damit einfach seine schon bei Compound und Co. eingeführte Zählung fortsetzt.
  • Eine für mich sehr plausible Erklärung für die fünfstelligen Nummern könnte sein, dass die Werkzeugmaschine(n), die die Seriennummer gestanzt haben, nur auf sechs Stellen ausgelegt waren und erst einmal aufgerüstet werden mussten. Sprich: die 70009 ist eigentlich als 1070009 zu lesen. Deckel konnte mit dieser Übergangslösung leben, da ein möglicher anderer Verschluss mit der selben Seriennummer definitiv kein Compur war.
Es kann natürlich noch andere Erklärungen geben. Wer eine andere Idee hat, bitte unten kommentieren. Außerdem wäre es toll, wenn wir gemeinsam noch weitere Belege sammeln könnten: Wer einen Compur mit fünf- oder niedriger sechsstelliger Seriennummer (< 214.000) hat, bitte auch mit Angaben zu Kamera und/oder Objektiv entweder hier kommentieren oder mir eine e-mail (knippsen (at) icloud.com) schicken. Danke nochmal an Attila für dieses wertvolle Geschichts-Puzzlestück und natürlich die Fotos hier.

Nachtrag am 3. Oktober 2024

4-stelliger Compur (Größe1), gefunden an 
einer Voigtländer Bergheil 9x12, mit einem
Heliar 13,5 f/4,5 (beides 1927)
Rad-Compur (Größe 2), an einer
Voigtländer Bergheil 10x15, mit 
einem Skopar 16,5 f/4.5 (1927)
Eure Rückmeldungen waren diesmal sehr schnell und ich bin sehr erfreut hier noch weitere sehr niedrige Seriennummern zeigen zu dürfen. Der Sammler-Kollege Jan Seifert hat sogar vier Kameras in seiner Sammlung, die Nummern unterhalb der 214.000 haben. Darunter sogar eine nur vierstellige Nummer. Neben den beiden hier per Foto gezeigten gibt es noch die #101689 (Größe 00, Zeiss Ikon Cocarette 207U mit Tessar 9cm f/4.5, von 1927) und die #145582 (Größe 2, Zeiss Ikon (ehem. Ernemann) Heag IX 13x18, Tessar 18 cm f/4.5, 1927). Na, fällt was auf? Alle Kameras sind anhand anderer Merkmale eindeutig dem Jahr 1927 zuzuordnen. Damit bekommt meine These von oben gehörige Unterstützung.

Ja, und dann erhielt ich noch eine fast unglaubliche Liste vom Kollegen Pavel Krumphanzl aus Prag. Sie enthielt 891 frühe Kameras mit Compound und Compur-Verschlüssen. Alle davon sind aus dem Zeiss Ikon "Verbund" (sprich ICA, Contessa-Nettel, Ernemann, Goerz und ab 1926 "ZI"), 650 davon haben eine Seriennummer nach dem ICA/ZI-Schema, die mir eine grobe Zuordnung der Kameras zum Herstelljahr erlaubten. Auch Objektiv-Seriennummern waren da, die habe ich aber für meine Schnellanalyse außen vor gelassen. Hier die Grafik dazu:

Und man sieht es ganz deutlich: Compur-Verschlüsse mit Seriennummern unter 250,000 wurden in den späten 1920er Jahren verbaut. In Pavels Liste sind 150 davon, auch ein paar mit fünfstelliger Nummer. Bei Gelegenheit werde ich noch weiter in die Liste eintauchen und meine Analyse(n) verfeinern. Pavel hat mich auf seine Beobachtungen hingewiesen, dass in den 1920er Jahren bestimmte Nummernblöcke gehäuft bei bestimmten Produzenten auftauchen (z.B. ICA hat oft 300xxx-450xxx, Goerz und Contessa Nummern über 500-Tausend). Und natürlich die Sache, dass Zeiss Ikon Kameras den RIM-Compur ab 1928 mit den Nummern 1.xxx.xxx bekamen, alle anderen Hersteller mit 2.xxx.xxx. Genauso hat es Deckel mit dem Compur Rapid ab 1934 gemacht (ZI: 4.xxx.xxx, andere: 5.xxx.xxx). Aber mehr dazu ein anderes mal... Ganz großen Dank an Pavel und Jan, und an alle anderen, die hier unten ggf. noch kommentieren und eigene Erkenntnisse beitragen.

2024-09-15

Kenngott Supra No. 2 (6.5 x 9 cm)

Wie ich schon bei meinem Beitrag zur Agfa Isolar 408 (eine 9x12 Kamera) geschrieben habe, gehören Platten- bzw. Laufbodenkameras eigentlich nicht in mein Sammler-Beuteschema. Auf einem Flohmarkt am letzten Wochenende lief mir allerdings diese Kenngott Supra No.2 über den Weg und ich habe spontan zugeschlagen. Sie ist für das kleinere Plattenformat 6.5 x 9 cm gebaut (es gab auch eine entsprechend große 9x12 Variante als Supra No.4) und außerdem war mir Kenngott in anderen Zusammenhängen schonmal untergekommen, und deren Kameras sind einigermaßen selten. Das versprach einiges an Spaß bei der Hintergrundrecherche. 

Und tatsächlich: Die Informationslage zur Firma Kenngott in Stuttgart ist sehr lückenhaft und verschiedene Quellen widersprechen sich zum Teil. Hier ist mein Destillat, ohne Gewähr: Die Firma geht zurück auf (Georg) Wilhelm Kenngott (*30.9.1864 in Reutlingen), der um die Jahrhundertwende als wohl erfolgreicher Fotounternehmer seine Firma/Firmen aufbaut. Als Startpunkte werden die Jahre 1894 bis 1901 genannt, die Orte Reutlingen, Stuttgart und Paris tauchen auf, es wird mit Fotobedarf mal nur gehandelt und dann auch produziert. Es geht um Objektive, Kameras, Stative und einen Verschluss. Belegt ist nämlich, dass Wilhelm Kenngott als alleiniger Erfinder eines Zentralverschlusses auf dem französischen Patent 350870 vom 19.2.1906 genannt ist. Dieser Verschluss wird als "Koilos" ab 1904 bei Alfred Gauthier in Calmbach gebaut und ist der Vorläufer des Ibso(r), der an dieser Kamera hier zu finden ist. Angeblich war Kenngott Teilhaber von Gauthier und (laut Harmut Thiele) auch von Fr. Deckel in München. Vielleicht war seine Verschluss-Erfindung so gelungen, dass beide Firmen Lizenzen davon gegen Teilhaberschaften erwarben (reine Spekulation).  Ab wann und wo es mit der eigenen Kameraproduktion wirklich losging, bleibt im Unklaren. Eine Quelle spricht von 1905, andere melden Kenngott-Kameras erst aus den 1920ern. Da war Wilhelm Kenngott schon tot, er starb am 25.7.1919. Seine Söhne Karl und Willi erbten die Firma und spätestens ab dann wird nur noch Stuttgart genannt. 1932, im Jahr der größten Wirtschaftskrise in Deutschland muss Konkurs angemeldet werden. Qualifizierte Arbeiter und Angestellte hatten wohl kein Problem wieder Anstellung bei den anderen Stuttgarter Kameraproduzenten (Kodak/Nagel, Zeiss Ikon, Ebner, Krauss) zu finden. 

Die Kamera selbst ist gehobener Standard. Genau solche Laufbodenkameras gab es Ende der 1920er Jahre von nahezu jedem Kamerahersteller. Es ist eine erstaunlich homogene Kameraklasse, die Unterschiede zwischen den Herstellern beschränken sich auf ein paar rein gestalterische Kleinigkeiten, technisch ist fast alles identisch und sogar die Bedienung ist gleich. Als Käufer konnte man zwischen Ausstattungsvarianten bzgl. Objektiv und Verschluss wählen, diese Unterschiede (auch im Preis) waren innerhalb eines Modells größer als zwischen Modellen verschiedener Hersteller. 
Am Ende der 1920er Jahre waren Laufbodenkameras wie diese immer noch erste Wahl für jeden der ambitioniert fotografieren wollte. Die kleinere 6.5x9-Klasse war populär, weil man sie gut mitnehmen konnte. Allerdings war das Resultat auch nur ein ebenso großes Foto, denn Vergrößerungen waren eine sehr seltene Ausnahme. Mit den enormen Fortschritten, die der fotografische Film damals machte, kamen Rollfilmkameras immer mehr in Mode, auch Kenngott hatte mindestens ein Modell im Programm. 
Doch auf den gewaltigen Umbruch, der zwischen 1930 und 1933 am Kameramarkt passierte, waren nicht alle Hersteller gut vorbereitet. Zusätzlich zur allgemeinen Wirtschaftskreise wollten die Kunden plötzlich die altbackenen Laufboden-Plattenkameras nicht mehr kaufen und fast von heute auf morgen war das Zeitalter der Rollfilm und Kleinbildkameras angebrochen. Laufboden/Platten-kameras wurden zu Ladenhütern, blieben bei einigen Herstellern aber noch bis 1939 im Verkaufsprogramm. Ich bin davon überzeugt, dass diese dann schon ein paar Jahre auf Lager lagen und die eigentliche Produktion Anfang der 1930er aufgegeben wurde. Entweder um Rollfilm- und Kleinbildkameras Platz zu machen, oder wie im Falle Kenngott durch Konkurs. 

Datenblatt Laufbodenkamera für Platten oder Planfilm 6.5 x 9 cm 
Objektiv Meyer Helioplan 10.5 cm f/4.5 (Doppel-Anastigmat, 4 Linsen), Kamera war auch mit Schneider Radionar f/6.3, Radionar f/4.5 oder Xenar f/4.5 erhältlich.
Verschluss Ibsor Selbstspann-Zentralverschluss, T-B-125-50-25-10-5-2-1 1/s, Blende stufenlos, Blendenskala 4.5-6.3-9-12.5-18-25. Kamera war auch mit Vario oder Compur-Verschluss erhältlich (s. Anzeige unten)
Fokussierung Manuell mit Schneckentrieb, Skala bis 1m, doppelter Auszug (20cm)
Sucher schwenkbarer Brilliantsucher für Hoch- und Querformat, ausklappbarer Rahmensucher, alternativ Motivwahl und Fokussierung über Mattscheibe anstelle der Filmplatte.
sonst. Ausstattung Wasserwaage für horizontale Ausrichtung, Drahtauslösergewinde, 2 x Stativgewinde 3/8'', horizontale und vertikale Verschiebung des Objektivträgers mit Drehschrauben möglich
Maße, Gewicht 115 x 83 x 38 mm (geschlossen), 607 g
Baujahr(e) 1929 bis vermutlich 1932, diese Kamera (ohne Seriennummer) laut Objektiv-Seriennummer von 1930 oder 1931.
Kaufpreis, Wert heute 94 RM (in dieser Ausführung, siehe unten), ca. 50 €
Links engel-art.ch, Collection Appareils, Collectiblend, Gauthier Heimatgeschichte, Camera-Wiki
Bei KniPPsen weiterlesen Kleinfilmkameras Anfang der 1930er, Agfa Isolar, August Nagel, Krauss Rollette