2024-01-10

Kleinbildfotografie aus der Filmperspektive

Die Entstehung und später der Siegeszug der Rollfilm- und speziell der Kleinbildfotografie in den 1920er und 1930er Jahren ist ein sehr interessantes Gebiet für uns Kamerasammler. Leider wird die Bedeutung von Oskar Barnack‘s Leica dazu in populären Darstellungen aber auch in sonst seriösen Abhandlungen viel zu sehr überhöht. Als ob eine einzelne Kamera eine solche technische Revolution auslösen könnte. Die eigentliche Revolution fand nämlich im Hintergrund statt. Ich spreche vom fotografischen Film, der zwar schon am Ende des 19. Jahrhunderts erfunden wurde, aber insbesondere in den 1920er Jahren enorme Fortschritte, ja Qualitätssprünge machte. Diese möchte ich hier im Folgenden einzeln erläutern und entsprechend würdigen. 

Negativformat und Qualität - der Ausgangspunkt
Filmherstellung in den 1930ern. 
Mehr Details hier.

Je kleiner das Negativ, desto mehr treten Qualität und insbesondere ihre Mängel des entsprechenden Filmmaterials im finalen Bild zutage. Für die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Plattenkameras waren Kontaktabzüge von der negativen (Glas-)Platte die Regel. Die fotografische Emulsion durfte relativ grobes Korn zeigen, kleinere Fehler, Risse, Lufteinschlüsse oder schlicht Staub fielen nicht sehr ins Gewicht. Die Kameras waren dadurch eh groß und schwer und standen deshalb meist auf einem Stativ, die Lichtempfindlichkeit der fotografischen Schicht war daher mit 3-10 DIN (heutige Definition) meist ausreichend. 

Die Erfindung des Rollfilms

Rollfilme wurden von Eastman Kodak schon 1889ff zusammen mit einfachen Boxkameras auf den Markt gebracht. Über die Erfindung des Rollfilms durch Hannibal Goodwin habe ich hier schon geschrieben. Mehr als Boxkamera-Bildqualität (einlinsige Fixfokus-Optik) war auch vom Film her nicht drin. Auch diese Negative wurden per Kontaktkopie zum Foto. Auf der Produktionsseite gab es noch einige Probleme zu lösen, vieles ging immer wieder schief. Bei Agfa (damals noch in Berlin) waren die Probleme so groß, dass man sich 1905 aus dem Filmgeschäft wieder zurückzog und erst mit dem Sog des lukrativen Kinefilm-Marktes ein paar Jahre später wieder damit begann und letztendlich zu Europas größtem und nach Kodak weltweit zweitgrößtem Filmhersteller wurde.

Der Kinefilm und sein Einfluss

Der Kinefilm und sein fulminanter Aufstieg zum neuen Bewegtbildmedium in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts trug auch entscheidend zur Qualitätssteigerung des ‚normalen‘ Negativfilms bei. Zunächst einmal trennte sich Hersteller-seitig die Spreu vom Weizen. Filmherstellung in solch großen Mengen erforderte nicht nur entsprechendes Know-How, sondern auch große Investitionen in die entsprechenden Maschinen. Etwas, was sich nur ein paar von den bis dahin sehr zahlreichen Fotoplattenfabriken (bzw. ‚-manufakturen‘) leisten konnten. Die meisten von den später erfolgreichen zogen außerdem aus Qualitäts- und Platzgründen aus der Stadt aufs Land oder zumindest an den Stadtrand: Agfa vom Smog-geplagten Berlin nach Wolfen, Perutz an den Münchner Stadtrand und Adox von Frankfurt ins nahe Neu-Isenburg. In allen Fällen führte die bessere und staubfreiere Luft zu viel weniger Qualitätsdefekten beim fertigen Film. Kinefilm hat nicht dieselben technischen Anforderungen wie normaler Negativfilm. Was Produktionsqualität angeht aber auch bei den Herstellkosten haben sie beide voneinander über die Jahre profitiert.

Sensibilisierung mit speziellen Farbstoffen erweitert
die spektrale Empfindlichkeit. Quelle: Wikipedia
Spektrale Empfindlichkeit - Orthochromasie

Die Sensibilisierung der lichtempfindlichen Silberbromid-Emulsion für den gesamten Wellenlängenbereich des sichtbaren Spektrums und damit die richtig empfundene Wiedergabe der Farben in Graustufen ist für mich die zentrale Entwicklungsaufgabe der Filmindustrie, die erst gegen Mitte der 1930er Jahre als abgeschlossen gelten kann. Seit der Entdeckung durch Hermann Wilhelm Vogel im Jahr 1873, dass der Zusatz von bestimmten Farbstoffen die spektrale Empfindlichkeit der Emulsion erweitert wurde auf dem Gebiet sowohl akademisch (Vogel wurde der erste Professor für Photochemie an der Königlich Technischen Universität Berlin, Adolf Miethe 1899 sein Nachfolger) als auch in der sich etablierenden Fotoplatten- und Filmindustrie intensiv geforscht. Es ist wohl kein Zufall, dass viele der auf dem Gebiet erfolgreichen Firmen eigentlich Farbstoffhersteller waren.
Hermann Wilhelm Vogel,
Erfinder der Senibilisierung
Die Aktiengesellschaft für Anilinfarben (kurz: Agfa) ist nur ein prominentes Beispiel. Die Firma, die bei dem Thema aber wohl alle anderen vor sich her trieb war die Otto Perutz Trockenplattenfabrik GmbHSie unterhielt seit den 1880er Jahren intensive Kontakte zur Forschung in Berlin und implementierte die neuesten Erkenntnisse mit als erste in Form neuer Fotoplatten und -filme. Arthur Traube, der zusammen mit Miethe 1902 die panchromatische Sensibilisierung erfunden hatte, wechselte 1910 als Technischer Direktor zu Perutz nach München. Ihr wichtigstes Produkt wurde die Perortho-Grünsiegel-Platte und natürlich später der Grünsiegel-Film. Noch im Photo-Porst Katalog von 1932 kann man lesen: „Perutz hält in Bezug auf Orthochromasie noch immer die Führung unter allen Filmfabrikaten.“ Im Bezug auf die Rollfilm- und Kleinbildfotografie ist folgender Aspekt interessant: Orthochromatisches Material ist trotz (oder gerade wegen) seiner Rotblindheit bevorzugt bei Platten- und Planfilmfotografen, die ja ihre Negative einzeln bei Rotlicht in der Dunkelkammer „nach Sicht“ entwickeln. Erst die Rollfilme, die komplett im Dunkeln entwickelt werden, haben einen relevanten Markt für panchromatisches Material entstehen lassen. 

Entwicklung der Filmempfindlichkeit
über die Jahre von 1920 bis 1937.
Quelle: Agfa Isopan ISS Prospekt 
Allgemeine Empfindlichkeit und ihre Normung 

Mit der Ausweitung der spektralen Empfindlichkeit und anderen Prozessverbesserung stieg über die Jahre die allgemeine Empfindlichkeit, wie man schön an der Grafik links aus dem Agfa Isopan Super-Spezial Prospekt von 1937 sehen kann. Agfa hatte sich mit diesem höchstempfindlichen Film (heute: ISO 200/24) in diesem Aspekt an die Spitze des Feldes gesetzt, in dem sie den von ihrem Mitarbeiter Robert Koslowsky gefundenen Gold-Effekt implementierten (und bis zum Ende des 2. Weltkriegs geheim hielten). 
Die Filmempfindlichkeit wurde 1934 in die DIN-Norm 4512 gefasst (die bekannte amerikanische ASA-Norm entstand erst in den 1940ern) und erlaubte erstmals objektive Vergleiche verschiedener Filme anhand einheitlicher Messverfahren. Die zuvor meist verwendeten Scheiner-Grade waren eigentlich nur bis zu Stufe 20 definiert und es gab Ende der 1920er Jahre nicht nur technische Empfindlichkeitssteigerungen darüber hinaus, sondern fast auch eine Inflation der Zahlen, da jeder Filmhersteller seine eigenen Messverfahren und Definitionen anwendete und eher nach oben „rundete“. 
Die DIN 4512 und auch die ASA Norm wurden übrigens Anfang der 1960er nochmal angepasst, sodass Filme ohne Emulsionsänderung nochmal 3 DIN dazu bzw. den doppelten ASA-Wert bekamen. Die Standard-Empfindlichkeit von 15/10 - 18/10 DIN (entspricht heute ISO 50-100) wurde also Anfang der 1930er Jahre erreicht, für mich eine zentrale Voraussetzung für die Roll- und Kleinbildfotographie, die ja meist aus freier Hand und ohne Stativ erfolgte. Verwackeln wird nämlich genauso wenig vom Vergrößerer verziehen wie Staub oder Kratzer.  

Feinkorn und Auflösung

Korngröße, Empfindlichkeit und
Feines Korn hängt nicht nur vom Film selbst ab
(Empfindlichkeit), sondern auch von der Entwicklung.
Quelle: Hans Windisch, Die Neue Foto Schule (1941) 
Auflösungsvermögen sind Parameter, die sich nicht unabhängig voneinander optimieren bzw. verbessern lassen. Das ist der Grund, warum es verschiedene Filme mit entsprechendem Schwerpunkt auf einzelne Parameter gab und noch gibt. Trotzdem wurden im Laufe der hier betrachteten Jahrzehnte enorme Fortschritte bzgl. aller genannten Parameter zusammen gemacht. Erwähnenswert hier im Zusammenhang mit dem späteren Kleinbildfilm ist die Entwicklung des sogenannten Feinkornfilms. Hier stand wie so oft der Krieg Pate, zusammen mit der Erfindung der Fliegerei. Für die im ersten Weltkrieg aufkommende Luftaufklärung wurden nicht nur hochauflösende und spezielle Objektive gerechnet, sondern man brauchte auch Fotoplatten bzw. Film mit entsprechendem Auflösungsvermögen. In Deutschland hatte zuerst die damals führende Firma Perutz technische Erfolge zu vermelden und sich mit ihrem Fliegerfilm einen Namen gemacht. Ich denke auch bei Lumier in Frankreich, bei Ilford in England und Eastman Kodak in den USA aber auch bei den anderen deutschen Firmen wird es entsprechende Forschung und Entwicklung gegeben haben.
Nach dem Krieg wurden die Erkenntnisse und Verbesserungen in friedliche Filmprodukte implementiert, bei Perutz profitierte ab 1923 insbesondere die neue Film-Produktion von feinkörnigeren und höher auflösenden Emulsionen. Kurz nach Erscheinen der Leica 1925 gab es einen Leica-Spezial-Film, der später auch als erster Feinkornfilm vermarktet wird. Man sieht: Auch in diesem Aspekt ist Ende der 1920er Jahre die Technik reif für kleine, später zu vergrößernde Negative.

Der Entwickler, Lichthof- und andere Schutzschichten

Man darf bei den ganzen technischen Fortschritten bezüglich der fotografischen Emulsion nicht auch die anderen Dinge drumherum vergessen. Da sind zuerst die Entwickler- und Fixierchemikalien zu nennen, die oft sogar die Keimzelle für später erfolgreiche Firmen wurden. So geschehen bei Agfa, deren Chemiker Momme Andresen 1891 den berühmten Enwickler Rodinal (4-Aminophenol) erfand und damit die fotografische Abteilung der Farbenfabrik Agfa begründete. Rodinal steht als ältestes heute noch erhältliches Fotoprodukt übrigens im Guinness Buch der Rekorde, auch ich verwende es heute noch manchmal. Solch fertig gemischten und formulierten Entwickler verdrängten über die Jahrzehnte immer mehr die individuelle Rezeptur von Hobbyfotografen und trugen genauso wie bessere Filme zur Qualität der Bilder bei. Auch das heute noch verwendete Fixierbad (Natrium- bzw. Ammoniumthiosulfat) stammt vom Anfang der 1890er Jahre.
Lichthofschutz-Beispiel aus einer Agfa Broschüre
Ein großes Problem bis hinein in die frühen 1930 Jahre waren die sogenannten Lichthöfe, die besonders bei hellen Lichtern im Bild oder am Rand großer Kontraste auftraten und nicht nur unschön aussahen, sondern tatsächlich Bildinhalt und Auflösungsvermögen zunichte machten. Es handelt sich quasi um vagabundierendes Licht innerhalb der fotografischen Emulsion, hervorgerufen durch Reflexion am Schichträger (Glasplatte, Film) oder durch Streuung/Diffusion innerhalb der Schicht selbst. Die Lösung des Problems bestand meist in einer Extra-Schicht mit eingebetteten Farbstoffen, die dieses unerwünschte Licht absorbierten, sich aber im Entwicklungsprozess auflösen müssen. Bis Mitte der 1930er Jahre wird bei Filmen mit Wörtern wie „Antihalo“ etc. auf dies extra hingewiesen. 
Auch andere extra Schichten wurden dem an sich schon komplexen Film-Beschichtungsvorgang (man spricht vom „Guss“) hinzugefügt. Oft wird dies von Mehrfachgießköpfen in einem Arbeitsschritt erledigt. Fast alle heutigen Filme haben eine sehr dünne Kratzschutzschicht aus gehärteter Gelantine als oberste Lage, die am Ende dafür sorgen soll, dass nicht Staubkörner in der Kamera oder der Finger beim Entwickeln unschöne Kratzer im Bild machen. 

Film war ab ca. 1930 reif für die Kleinbildfotografie

Meine bis hier hin schon sehr langen Ausführungen lassen hoffentlich erahnen, welche gewaltige Fortschritte die Filmindustrie in den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts geschafft hat. Die Rollfilme der frühen 1930er Jahre und speziell der 35 mm Kleinbildfilm war damit reif für die Kleinbildfotografie. Der Schwarzweißfilm der zweiten Jahrhunderthälfte wurde nicht mehr entscheidend weiter verbessert, sieht man mal von wirklich hochempfindlichen Filmen (ISO 3200) mit der T-grain Techologie ab. Aber das waren fast Nebenprodukte der neuen Herausforderungen, denen sich die Film- und Fotoindustrie ab 1935 stellte: Der moderne Farbfilm.  Aber über das Thema hatte ich ja schon früher mal in einer kleinen Seire berichtet: 1) 100 Jahre moderner Farbfilm 2) Kodachrome;  3) Agfacolor Neu4) Ektachrome and Kodacolor

Filmherstellung aus einem ORWO Prospekt


 



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen