2021-07-04

Ernemann Bobette I

Je länger ich mich mit der Geschichte kleiner und kompakter Kameras beschäftige, desto mehr frühe und später in Vergessenheit geratene Modelle tauchen auf. Und so bin ich besonders glücklich, auch diese Ernemann Bobette in meiner Sammlung begrüßen zu dürfen. Auch wenn die 1925 erschienene Leica im Rückblick oft als Beginn der Kleinbildfotografie verklärt und als Geniestreich bezeichnet wird,  ist dies nicht richtig. Spätestens seit der Vest Pocket Kodak und dem dazugehörigen Rollfilm 127 von 1912 war klar, dass es einen Markt für Westen- oder Jackentaschen-taugliche Kleinbildkameras gab, mögen die Bildresultate doch erstmal nicht Studiokameraqualität erreicht haben.

Die Firma Ernemann in Dresden war Anfang des 20. Jahrhunderts einer der führenden (noch von Zeiss unabhängigen) Kamerahersteller in Deutschland und beschäftigte sich auch mit bewegtem Film und Kino-Projektion. Sie hatten also alles im Haus, um fast zeitgleich zur Leica zwei eigene Kleinbildkameras für den 35 mm Film rauszubringen. Die erste war 1924 die Miniaturbox Unette und ab 1925 kam dann die Bobette, die ganz in der Tradition der Vest Pocket Kodak stand, wie man unschwer sieht. Beide Ernemann Kameras verwendeten einen proprietären 35 mm breiten Rollfilm mit Rückseitenpapier, der 24 Bilder lieferte. Bei  der allerersten Version der Bobette I war das Filmfenster noch 18x24 mm groß (das übliche Kinoformat, wohl sehr selten), was aber zügig auf 22x33 mm erweitert wurde, da der Film ja keine Perforation hatte und der Platz auf dem Film bestmöglich ausgenutzt werden wollte.
Wer diesen Film am Anfang für Ernemann produziert hat, oder ob sie gar selbst die Konfektionierung von entsprechenden 35mm Streifen vorgenommen haben, konnte ich nicht herausfinden. Ein heißer Kandidat wäre das Goerz Photochemische Werk in Berlin, welches 1926 genauso wie Ernemann selbst in der neu gegründeten Zeiss Ikon aufging. Zeiss Ikon jedenfalls hat den entsprechenden Rollfilm bis mindestens Mitte der 1930er Jahre unter eigenem Namen produziert. Chris Sherlock besitzt einen solchen Film und stellt ihn auf seiner tollen Web-Site aus. Auch die leere Spule in meiner Kamera ziert der Schriftzug Zeiss Ikon Film.

Neben der Spreizenkonstruktion der Bobette I gab es eine Version als Laufbodenkamera, die Ernemann als Bobette II vermarktet hat. Beide Konstruktionen haben es geschafft, als Modelle 548 und 549 ins Zeiss Ikon Programm übernommen zu werden, wo sie vermutlich bis 1929 blieben. 
Meine Kamera ist - wie man an den Fotos sieht - sehr gut erhalten. Wenn es noch Film gäbe, könnte man noch damit fotografieren. Mit nur 332 g liegt sie leicht in der Hand, fühlt sich allerdings wie eine mit Leder bezogene Blechbüchse an, was sie auch ist. Der Auslöser liegt etwas versteckt unter dem Frontblech, was wirksam Fehlbelichtungen verhindert, wenn die Kamera zusammengefaltet in der Tasche steckt. Mein Exemplar trägt die Seriennummer L97324, was ohne Kenntnis entsprechender Hintergrundinfos erstmal keine weiteren Schlüsse bezüglich möglicher Produktionsmenge zulässt. Ich schätze aber, dass es vielleicht ein paar Tausend waren. Zeiss Ikon brachte mit der (dem?) Kolbri (1930) und der Baby-Ikonta (1931) dann 3x4 Kleinbildkameras für den 127er Rollfilm, um schließlich mit der Contax (1932, Contax II: 1936) endgültig Leica anzugreifen. Auch andere schicke Kleinbildkameras wie die Tenax I (1939) sollten auch nicht unerwähnt bleiben. Den Namen Ernemann verbinden Foto-Interessierte meist mit der berühmten Ermanox, die zur selben Zeit wie die Bobette auf dem Markt war, für die ich als Sammler aber leider nicht genügend Kleingeld habe...

Datenblatt Frühe Kleinbildkamera für 35mm Rollfilm
Objektiv Ernemann-Anastigmat "ERNOPLAST" 5cm f/4.5 (Tessar-Typ). Kamera war auch mit dem Ernemann Erid 4 cm f/8 Fix-Fokus erhältlich.
Verschluss Selbst spannender Automatik-Verschluss mit Z-100-50-25 (1/s)
Fokussierung Frontlinsenverstellung, Naheinstellgrenze 0,7 m.
Sucher Ausklappbarer Rahmensucher
Filmtransport mittels Drehschlüssel und rotes Filmfenster für bedrucktes Rückseitenpapier.
sonst. Ausstattung Ausklappständer, Drahtauslösergewinde, Stativgewinde 3/8''.
Maße, Gewicht ca. 65x110x45 mm (zusammengeklappt), 332g.
Baujahr(e) 1926, danach als Zeiss Ikon Bobette (549) bis ca. 1929
Kaufpreis, Wert heute ?, heute ca. 100-300 €
Links Camera-wiki, Collectiblend, Wikipedia, IFM-Wolfen

3 Kommentare:

  1. Sehr schöner Beitrag!

    Die Seriennummer (Gehäusenummer / GN) L97324 zeigt uns, dass dieses Exemplar nicht mehr von Ernemann sondern schon in der Zeiss Ikon (ZID) Ära hergestellt wurde, also sicherlich irgendwann Oktober-Ende 1926. Andere solche ZID Bobettes tragen GN um L97XXX. Diese wurden gehören dann zur gleichen Charge.

    Die "noch Ernemann" Bobette I tragen eine Ernemann (ohne Buchstabe) GN um den Bereich 1.320.000 - 1.337.000.

    ZID hatte die Bobette I im Programm bis 1928, dann die überarbeitete 2. Variante in 1929.

    VG Daniel Sánchez

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    1. Hi Daniel, danke für deinen ergänzenden Kommentar.
      Viele Grüße
      Christoph

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  2. Wirklich sehr gut geschrieben;)

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