2024-12-25

Weihnachtsfotos auf alten Glasplatten

Diese Schachtel mit alten Glasplatten-Negativen fiel mir auf der Darmstädter Fotobörse vor 4 Wochen  in die Hände und ich habe sie spontan für ein paar Euro gekauft. Das aufgeklebte, handgeschriebene Schildchen mit „Familienphotos bis 1914“ weckte meine Neugier. Ein erster Kontrollblick auf der Börse zeigte einen Stapel gut erhaltener Glasnegative in Cellophanhüllen, drei davon im kleinen Plattenformat 6.5x9 cm, die anderen waren 9x12 cm groß. 

Diese Negative wurden natürlich mit Plattenkameras aufgenommen, wie ich sie hier oder hier schon beschrieben habe. Früher hat man von solchen Glasplatten Kontaktkopien hergestellt, z.B. mit Agfa Lupex Kopierpapier. Ich habe heute natürlich andere Möglichkeiten und die digitalen Abzüge, die ich hier auf der Seite veröffentliche, habe ich mit dem Aufbau links gemacht, mit einfacher Bildbearbeitung ins Positiv verwandelt und in brauchbare Form gebracht. 

Zwei der kleineren Platten zeigen eine Familie unter dem Weihnachtsbaum. Wenn man genau hinschaut, sieht man mindestens zwei Details, die eine zeitliche Einordnung erlauben: Zum einen trägt der mittlere Sohn der Familie ein Hemd mit Reißverschluss (erstmals ab Mitte der 1930er für weite Kreise verfügbar), außerdem weht auf der Ritterburg des Jüngsten eine kleine Hakenkreuzflagge.


Die größeren 9x12 Platten zeigen vermutlich ältere Motive. Nach der Mode zu urteilen, würde ich allerdings nur bei der Frau mit dem Kinderwagen und eventuell bei der Silberhochzeitsgesellschaft (?) von frühem 20. Jahrhundert ausgehen. Die anderen beiden Aufnahmen wirken für mich etwas moderner (evtl. 1920er Jahre?). Aber, urteilt selbst! Ich hoffe, ich trete mit der Veröffentlichung dieser alten Familienaufnahmen niemanden auf die Füße. Wenn jemand die Fotos kennt und mehr dazu erzählen kann, bitte unten kommentieren. Ansonsten: Frohe Weihnachten!


2024-12-17

Rectaflex


Seit langem hier mal wieder ein Spiegelreflex-Meilenstein: Die italienische Rectaflex war die erste in Serie gefertigte SLR mit einem Pentaprisma. Sie kam im Oktober 1948 auf den Markt und hat damit die anderen Teilnehmer des "Rennens" um diese Innovation eindeutig hinter sich gelassen. Dies gilt seit dem akribisch recherchierten Buch von Marco Antonetto (la Reflex Magica) als gesichert. Bedauerlicherweise gibt es immer noch Sammler, die die alte Dresdener Behauptung wiederkäuen, der Contax S gebühre diese Ehre. Auch unter meinem Beitrag zur Contax F gibt es einen solchen unbelehrbaren Kommentar. Eine gute um umfangreiche Zusammenfassung des "Rennens" und Diskussion der zeitlichen Abfolge findet sich hier.
Das Pentaprisma als zentrales Element
der modernen Spiegelreflexkamera.
Ich habe eigentlich nicht mehr damit gerechnet, dass ich eine Rectaflex mal meiner Sammlung hinzufügen kann, ist sie doch im Vergleich zum Beispiel zur Contax S relativ selten anzutreffen und wird daher üblicherweise entsprechend hochpreisig gehandelt. Mir lief sie auf der jährlichen Darmstädter Foto-Börse über den Weg und wegen ihrer ausgeprägten Gebrauchspatina und etwas Verhandlungsgeschicks konnte ich sehr günstig zuschlagen. 

Mein erster Eindruck war: Was für ein Klotz, mit Objektiv fast 1kg schwer, auf Bildern wirkt sie ohne direkten Vergleich kleiner. Außerdem hat sie insgesamt eine sehr hochwertige Anmutung mit einigen State-of-the-Art Features, natürlich bezüglich der späten 1940er Jahre, in mancher Hinsicht wirkt sie sogar rückblickend modern. Das ist insbesondere erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ihre Erbauer keinerlei Erfahrungen mit Kameras hatten und sie am Ende die erste und einzige italienische Spiegelreflexkamera bleiben sollte. 

Die Geschichte der Kamera ist sehr interessant und in deutscher oder englischer Sprache noch nicht detailliert im Netz zu lesen. Meine Hauptquelle für diese Kurzzusammenfassung ist die unten angegebene italienische Website, die sich wiederum auf das oben erwähnte Buch beruft. Das Ganze startet im Jahr 1946 als der römische Jurist Telemaco Corsi von der perfekten Kamera träumt und sich für ihn als nebenberuflich leidenschaftlichen Erfinder die Gelegenheit ergibt, seinen Traum auch umzusetzen. Corsi ist eigentlich Geschäftsführer von S.A.R.A. (Studi Atrezzature Realizzazioni Automechanice), einer kleineren Firma bei Rom, die alte Militärfahrzeuge für zivile Zwecke umrüstet. Während des Krieges hatte man unter anderem auch optisches Equipment wie Zielfernrohre in Lizenz montiert. Corsi war nicht Eigentümer, sondern nur angestellter Geschäftsführer von SARA, das zum großen Industriekonzern SNIA Viscosa, einem bedeutenden Kunstseidehersteller, gehörte. Er schaffte es irgendwie seine Chefs und Geldgeber von SNIA zu überzeugen, dass der Bau seiner Traumkamera eine gute Idee und neues Betätigungsfeld seiner Firma werden sollte.
 

Er scharrte also ein paar Techniker und Gleichgesinnte um sich und schaffte es, innerhalb weniger Monate einen noch nicht funktionierenden Prototypen zu konstruieren, der auf der Mailänder Messe im Juni 1947 vorgestellt wurde. Dieser hatte schon einen Rückschwingspiegel, aber das damals verwendete Prisma erzeugte zwar ein aufrichtiges, aber noch seitenverkehrtes Bild. Dies wurde schließlich durch die Verwendung des bis heute üblichen Dachkant-Pentaprismas geändert. Das folgende Jahr nutzte Corsis Team, um die Konstruktion mehr oder weniger fertigzustellen. Auf der Mailänder Messe 1948 konnte man die Besucher mit einer funktionierenden Kamera begeistern, was Corsi nutzte, seine Geldgeber vom Einstieg in die Serienfertigung zu überzeugen. Ab Oktober begann dann die Auslieferung der ersten Exemplare und das "Rennen" war gewonnen. Ich habe keine Ahnung, ob Corsi oder die anderen Teilnehmer überhaupt wussten, dass sie an einem solchen teilnahmen.

Die Kamera hatte natürlich anfangs einige Kinderkrankheiten,  insbesondere mit dem Verschluss. Kein Wunder bei der geringen Erfahrung des Entwicklerteams und der Geschwindigkeit, mit der diese Kamera quasi aus dem Boden gestampft wurde. Die ersten Jahre wurde bei laufender Produktion weitere ständige Verbesserungen implementiert, kurzzeitig gab es daher eine abgespeckte "Junior"-Version ohne Langzeitwerk und nur 1/500s als kürzeste Zeit. Nach fast 5000 ausgelierten Kameras und 4 Jahren hatte man 1952 endlich eine fertige Kamera (die sogenannte Standard 1000), allerdings war die Sache viel teurer geworden als gedacht und die Verkäufe ließen zu wünschen übrig. 



Die Verantwortlichen von SNIA entbanden Corsi von der Gesamtführung der Unternehmung, ließen ihm aber weiter das Entwicklungslabor, wo er schon bald den neuen Standard 1300 entwickelte (z.B. diese Kamera hier, Serien-Nummer ab 25001), der für die folgenden ca. 2 Jahre die produktivste Zeit des Unternehmens (300 Kameras pro Monat bei insgesamt 300 Angestellten) prägen sollte. Für Vertrieb und Marketing wurde Leon Baume angeheuert, dem es schließlich gelang, einen lukrativen Großauftrag für die US-Streitkräfte von insgesamt 30.000 Kameras über 5 Jahre an Land zu ziehen. Das entspräche ca. 500 Exemplare pro Monat, und hatte zur Folge, dass schon die erste Lieferung von 1500 Kameras Verspätung hatte. Die US-Armee stornierte daraufhin die folgenden Bestellungen und bezahlte wohl auch nicht die vereinbarte Summe.
 
Von diesem Schlag sollte sich das Rectaflex-Projekt nicht mehr erholen. Corsi und Baume kamen nicht miteinander klar und Ende 1954 beschloss SNIA Viscosa, die Produktion mit den noch vorhandenen Einzelteilen im Jahr 1955 auslaufen zu lassen. Baume suchte gleichzeitig einen Käufer für das Kameradesign und die Maschinen und fand den Fürsten Franz Josef II. von Lichtenstein, der die Firma schließlich mit seiner eigenen Kameraschmiede Contina zur Rectaflex International verschmolz. Dort in Vaduz sollte dann eine Weiterentwicklung der Standard 1300 mit anders geformten Prismengehäuse (Seriennummer ab 40001) "vom Band laufen". Der Umzug und Implementierung zogen sich dann aber bis 1958 und es wurden letztlich nur 300 Kameras in Lichtenstein produziert. 

So sehr mich die Kamera und ihre Geschichte faszinieren, ich wundere mich nicht über das Scheitern und die Umstände, die dazu geführt haben. Ähnliche Beispiele kenne ich aus Deutschland und habe sie hier im Blog vorgestellt und als 50er-Jahre Start-ups bezeichnet. Es war halt die Nachkriegswunderzeit, alles schien möglich und Träume wurden einfach mal so umgesetzt, der Realitätscheck fiel dann oft schmerzhaft aus, wie hier. Die Qualität und Innovationshöhe der Rectaflex ragt allerdings aus den vielen Startup-Kameras weit heraus und hätte sicher jedem größeren Kamerahersteller als Flagschiff gut zu Gesicht gestanden. So bleibt sie aber Kameraeinzelkind, die jetzt ihren verdienten Platz neben der Kine Exakta und der Contax F in meiner Vitrine findet.

Datenblatt Erste KB-Spiegelreflex mit Pentaprisma 
Objektiv Wechselobjektive mit Rectaflex-Bajonett, hier mit Schneider Xenon 50 mm f/2. Andere Objektive von Angenieux, Bertiot, Zeiss, …
Verschluss Horizontaler Tuchschlitzverschluss, B-1-2-5-10-25-50-100-200-600-1300 1/s. Frühe Versionen der Kamera: ...-100-200-500-1000. Modell Junior nur mit Kurzzeitwerk B-25-50-100-200-500.
Fokussierung Manuell per Schneckengang und Verschiebung des ganzen Objektivs. Fokussierhilfe siehe Sucher...
Sucher Spiegelreflex mit Mattscheibe und Pentaprisma, extra Mischbildentfernungsmesser im Bildzentrum. Rückschwingspiegel (mit Auslöser gekoppelt).
Blitz Zwei Anschlussbuchsen an der Kameravorderseite, einstellbare Verzögerung
Filmtransport Mit Drehknopf auf der rechten Kameraoberseite, gleichzeitiges Spannen des Verschlusses. Bildzählwerk (0-35, vorwärts), Rückspulknopf.
sonst. Ausstattung Stativgewinde 3/8'', ISO-Drahtauslösergewinde, Film/Empfindlichkeits-Merkscheibe.
Maße, Gewicht 148 x 90 x 50 / 82 mm, 708 / 982 g (ohne / mit Objektiv).
Baujahr(e) 1948-1955, ca. 11.000 Exemplare. Diese #28253 von 1953
Kaufpreis, Wert heute 135.000 L (1954) bzw. 295 US$ (1950), heute je nach Zustand, Objektiv und Modell, ca. 300 € bis 1500 €
Links Camera-Wiki, Pentax-SLR.com, Bencinistory (Italienisch), Anleitung (Italienisch), Manual (Englisch), ZeissIkonVEB (Contax S vs. Rectaflex), Mike Eckman, Kleinbildkamera.ch