Heute, zum 70. Jahrestag des Volksaufstands in der ehemaligen DDR am 17. Juni 1953 präsentiere ich die zugehörige Kamera. Nein, die Kamera selbst gab es damals noch nicht, aber sie ist eines der greifbaren Ergebnisse des "Neuen Kurses", den die SED-Führung im Mai 1953 verkündet hatte. Die Details und wie das alles zusammenhängt, kann man in Marco Krögers tollem Aufsatz und in Geschichtsbüchern zur DDR nachlesen. Jedenfalls sollten mehr Konsumgüter statt Schwerindustrieprodukte produziert werden und der DDR zum Wirtschaftswunder a la BRD verhelfen.
Warum dann gerade der Optik-Spezialist Carl Zeiss Jena am bisher auf Ferngläser spezialisierten Standort Eilsfeld in Thüringen (nahe der Quelle der Werra, daher der Name) eine Volkskamera bauen sollte, bleibt mir auch nach der Lektüre vieler Artikel zur Kamera immer noch rätselhaft. In Dresden und Umgebung hätte es genügend Kameraexpertise gegeben, aber vielleicht ging es ja gerade auch um das Schaffen von Arbeitsplätzen im strukturschwachen Thüringen.
Aber gerade die bisher im Kamerabau unbedarften, aber hochbegabten Ingenieure Werner Broche und Kurt Wagner schufen ein sehr innovatives und modernes Kamerakonzept, das von Anfang an eine im Featureset abgestufte Serie vorsah. Die Werra I bis V genannten Modelle unterschieden sich in ihrer Ausstattung mit Details (z.B. eingebauter Belichtungsmesser, Messsucher, oder Wechselobjektive). Der Grundkörper aus Aluminiumspritzguss und viele Einzelteile blieben bei allen Modellen dieselben, was neben vielen anderen pfiffigen Detaillösungen auch eine effektive und kostengünstige Produktion der Kamera(s) ermöglichte. Ich möchte die Werra daher gerne in eine Reihe mit anderen später erfolgreichen Kameraserien wie der Olympus XA oder der Minox 35 stellen.
Ein wesentliches Konstruktionsmerkmal hatten sich die Werra-Designer von der Tenax abgeguckt: Der Zentralverschluss sitzt auch hier hinter (!) und nicht mehr im Zentrum des Objektivs. Dies ermöglicht eine kompakte und modern wirkende Konstruktion. Der Schnellspannhebel der Tenax hätte allerdings auch der WERRA gut gestanden. Ich musste nämlich feststellen, dass deren Drehring zwar schick aussieht und die Kamera elegant macht, aber nicht besonders ergonomisch zu betätigen ist.
Die Kameraserie kam dann im zweiten Halbjahr 1954 auf den Markt. Bis 1968 wurden die fünf Grundmodelle in drei Generationen produziert, was zu 22 verschieden Versionen und mehr als vierzig Varianten führte. Insgesamt wurden mehr als 560.000 Kameras gebaut und verkauft. Ein tolles Feld für Sammler, die meines Erachtens beste Seite für den Einstieg ist diese hier.
Mein Exemplar (#76362) gehört zur zweiten Serie des lediglich WERRA genannten Grundmodells und ist wohl noch in 1954 (oder Anfang 1955) produziert worden. Es hat die charakteristischen Features: Die zur Schutzkappe umfunktionierbare Sonnenblende, Verschlussaufzug und (!) Filmtransport durch Drehring um das Objektiv, welches auch alle anderen Einstellelemente beheimatet (Fokus, Blende, Verschlusszeit). Dadurch verbleibt auf der ansonsten blanken Kameraoberseite nur der eingelassene Auslöser. Die Kameraunterseite hat dafür die Elemente, die man nicht immer braucht: Rückspulkurbel, Stativgewinde und Bildzählwerk. Charakteristisch für die Kamera war in ihren ersten Jahren auch der grüne Vulkanit-Bezug: ein Kunstleder, für das der technische Direktor Rudolph Müller verantwortlich zeichnete. Aus diesem Material war auch der anfänglich erhältliche weiche Reißverschlussbeutel. Beides wurde mit der zweiten Kamerageneration Ende der 1950er wieder zugunsten einer klassisch-schwarzen Belederung und einer traditionellen Bereitschaftstasche aufgegeben.
Mein Exemplar wurde zur Reinigung und inneren Inspektion rudimentär zerlegt... |
Mein Exemplar hat aber auch zwei historisch interessante Merkmale, die nicht alle WERRA Kameras haben: Zum einen den Compur-Rapid (#8646122, Baujahr 1952 in München!) und zum anderen die markenlose Beschriftung des Objektivs (T statt Tessar und einfach Jena statt Carl Zeiss Jena).
Beides hat mit dem sich verschärfendem Ost-West-Konflikt und dem aufkeimenden kalten Krieg Anfang der 1950er zu tun. Das wesentliche Zentralverschluss-Knowhow gehörte zwar zum Zeiss-Konzern war aber komplett bei Deckel und Gauthier in Westdeutschland beheimatet. Die DDR musste daher erstmal dieses Rad neu erfinden und eigene Expertise aufbauen. Das war zum Beginn der Werra-Produktion noch nicht soweit, so dass viele Kameras noch teure Compur-Verschlüsse eingebaut bekamen, die meisten allerdings den Synchro-Compur, nur wenige den Rapid.
Der Markenstreit zwischen Carl Zeiss Ost und West eskalierte gerade zur Markteinführung der Werra im Jahr 1954. In der anfänglichen Verunsicherung wurde wohl für einige Kameras, die für den West-Export vorgesehen waren, die Marken Carl Zeiss und Tessar einfach weggelassen. Ansonsten gäbe es noch viele weitere Details zu erwähnen. Allerdings gibt es schon viele Seiten im Netz, die sich mit der Werra befassen (siehe Links unten), ich möchte nicht alles nur wiederholen.
Datenblatt | kompakte Kleinbild-Sucherkamera (24x36) |
Objektiv | Carl Zeiss Jena Tessar 50 mm f/2.8 (4 Linsen, 3 Gruppen), "Jena T", #4242160. Die Grundversion war auch mit dem Novonar 50 mm f/3.5 (Triplet) erhältlich. Die späteren Modelle mit Messsucher besaßen auswechelbare Objektive, verfügbar neben dem Tessar: Flektogon 35 mm f/2.8, Cardinar 100 mm f/4. |
Verschluss | Compur Rapid bzw. Synchro-Compur Zentralverschluss hinter dem Objektiv, zu spannen mit dem breiten Drehring um den Verschluss herum, der auch den Film transportiert. B-1-2-5-10-25-50-100-250-500 1/s. Spätere Modelle hatten den Vebur 250, Prestor RVS 500, oder Prestor RVS 750. |
Belichtungsmessung | Keine. Die späteren WERRA II, IV und mit eingebautem Selen-Belichtungsmesser. |
Fokussierung | Manuell am Objektiv, kürzeste Entfernung 0.90 m. Ab Modell III ff. Messsucher mit Schnittbild-Entfernungsmesser. |
Sucher | Einfacher Durchsichtsucher (1x) mit Glasblock. Ab Modell III ff. komplexer Messsucher mit Schnittbild-Entfernungsmesser. |
Blitz | Synchronbuchse (alle Modelle), nur späte Modelle hatten einen Zubehörschuh. |
Filmtransport | Mittels zentralem Spannring um das Objektiv. Rückspulrad, vorwärtszählendes Bildzählwerk auf der Kamera-Unterseite. Spezielle Filmspreiz-Führung für bessere Planlage. |
sonst. Ausstattung | 3/8'' Stativgewinde, ISO-Drahtauslöseranschluss, Kameragurt-Ösen, Sonnenblende, die umgekehrt als Objektivschutz aufgesteckt wird. (Kunst-)lederne Reißverschlusstasche. |
Maße, Gewicht | 117x72x80 mm, 450g (inkl. Sonnenblende) |
Batterie | keine |
Baujahr(e) | 1954-1955 (dieses Grundmodell), gesamte Serie: 1954-1968, insgesamt ca. 560.000 Kameras, davon ca. 281.000 des einfachen Grundmodells/Werra I. |
Kaufpreis, Wert heute | 100 Mark (1954), andere Modelle siehe hier. Heute je nach Zustand und Modell: ca. 20 - 40 €, Wechselobjektive z.T. deutlich mehr. |
Links | Camera Manual (english), ZeissIkonVEB, Les WERRA, Alfred Klomp, Lippisches Kameramuseum, Camera-Wiki, Dirapon.be, Wikipedia, Optiksammlung.DE, Chris Osborne, Mike Eckman |
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