Die Wirtschaftswunder-50er Jahre in Westdeutschland brachten auch im Kamerabau einige seltene Blüten hervor, und diese Adox 300 ist eine davon. Alles technisch denk- und machbare wurde auch realisiert und kam auf den Markt, unabhängig davon, ob ein technisches Feature (hier: das Wechselmagazin) auch wirklich gebraucht wurde. Andere Beispiele aus meiner Sammlung in dieser Kategorie sind die Durst Automatica (unvollständig implementierte Zeitautomatik), die Witt Iloca Electric (eingebauter elektrischer Motor) oder die Wirgin Edixa electronica (elektromotorische Vollautomatik). Der Adox 300 und den anderen genannten Kameras ist gemein, dass sie seltene Blüten blieben, d.h. es verkauften sich nur ein paar Tausend Exemplare und keine davon dürfte die Entwicklungskosten des speziellen Features wieder eingespielt haben. Im Gegenteil: Der finanzielle Schaden war zum Teil so groß, dass keiner der genannten Kamerahersteller danach noch länger als solcher existiert hat.
Aber der Reihe nach und zu dieser schicken Kleinbildkamera der Dr. C. Schleussner Fotowerke GmbH, besser unter ihrem (Film-) Markennamen ADOX bekannt. Zur Geschichte dieser Firma hatte ich bei der Adox Golf schon was geschrieben. Die Adox 300 ist eine sehr solide gebaute, aber ansonsten eher einfach gehaltene Sucherkamera mit fest eingebautem Objektiv. Der Compur-Synchro-Zentralverschluss und der eingebaute aber ungekuppelte Selenbelichtungsmesser sind gehobener Standard, sowas gab in den späten 50ern von fast jedem renomierten Kamerahersteller (z.B. Voigtländer Vito BL, Zeiss Ikon Contessa, Kodak Retinette IIB, Braun Super Colorette IB). Das besondere an der Adox 300 ist das 1956 im Kleinbildbereich einmalige Wechselmagazin für den Film, was es dem Fotografen erlaubt (weitere optional erhältliche extra Magazine für je 56 DM vorausgesetzt) mitten im Film, ggf. mehrfach hin und her, verlustfrei von Schwarz-Weiss zu Farbe oder von Dia- auf Negativ-Film zu wechseln.
Das Magazin ist quasi die halbe Kamera, enthält es doch die gesamte Filmführung inklusive Aufwickelspule, Bildzählwerk und Rückspulkurbel. Zusätzlich bedarf es natürlich eines metallenen, flexiblen Schiebers, der das Filmfenster lichtdicht verschließbar macht und Kupplungen zum Rest der Kamera für Filmtransport und um eben diesen Schieber zu bedienen. Außerdem gibt es zwei Merkscheiben für Filmmaterialart und -Empfindlichkeit, die (wie das Bildzählwerk auch) durch Fenster in der äußeren Kamera sichtbar sind. Nachtrag (10. Mai 2024: Ich habe inzwischen ein zweites Magazin zur Kamera, siehe hier).
Das Magazin verschwindet also komplett in der Kamera, dahinter geht eine fast normale Rückwand zu. Ohne Magazin funktioniert die Kamera natürlich nicht, darin unterscheidet sich die Adox 300 von Zeiss Ikon‘s späteren SLR Modellen Contarex und Contaflex, bei denen eine normale Rückwand durch ein optionales Magazin ersetzt werden konnte (aber nicht musste). Wo wir gerade dabei sind: Es gab noch wenige andere Kleinbildkameras mit Filmwechselmagazinen: Die beiden Rolleiflex SL2000F und SL3003, sowie die Mamiya Magazine 35, die 1957 auf den Markt kam und bezüglich Markterfolg das Schicksal mit der Adox teilte. Die allererste Kleinbildkamera mit diesem Feature war allerdings die Kodak Ektra von 1941 und daneben noch viele weitere Schmankerl wie Wechselobjektive und Messsucher bot.
Aber nochmal zurück zum Magazin, der eigentlichen Erfindung hinter der Kamera: Das Deutschen Patent 1 044 601 wurde am 20.4.1956 angemeldet und am 20.11.1958 den Adox Fotowerken erteilt. Erfinder waren die Adox-Ingenieure Hermann Ploss und Hans Hell. Die beiden hatten an alles gedacht, damit der Magazinwechsel wirklich auch beim dümmsten anzunehmenden Nutzer ohne Bildverlust und Fehlbedienung vonstatten geht. Dazu mussten sie einige mechanische Sperren vorsehen, die ich versucht habe im Schaubild links zu skizzieren. Um es kurz zu machen: Das Magazin kann nur gewechselt werden nachdem ein Bild gemacht wurde, aber bevor der Verschluss wieder gespannt und der Film transportiert wurde. Nur dann läßt sich der Magazinschlüssel drehen, wobei das Magazin mit einem metallischen Schieber lichtdicht verschlossen wird, danach poppt die Rückwand auf.
Leider gibt es einen eher zufällig auftretenden Zustand, bei dem in dieses sonst so geniale Sperren-Räderweg eingegriffen werden muss: Wenn nach dem letzten Bild der Film zu kurz ist, um einen ganzen Spannvorgang zu machen, dann verbleibt das System in einem komplett gesperrten Zustand und nichts geht mehr, sogar die Rückwand bleibt zu. Nur dafür gibt es dann ein kleines Hebelchen neben dem Sucherokular. Wenn man dies gedrückt hält, kann man den Verschluss zu Ende spannen, ohne den Film zu transportieren. Danach muss man noch einmal den Auslöser drücken (mit aufgesetzter Objektivkappe), dann kann man den Magazinschlüssel wieder drehen.
Wer aber brauchte ein Wechselmagazin wirklich, bzw. war bereit dafür extra zu bezahlen? Nicht so viele, wie sich herausstellen sollte. Laut Seriennummern wurden nur knapp 9000 Exemplare der Kamera und ungefähr doppelt so viele Magazine verkauft. Mit 298 DM plus 56 DM für ein zweites Magazin kostete die Kamera 57% mehr als eine Braun Super Colorette IB (225 DM), die ansonsten fast identisch ausgestattet war und sogar noch einen gekuppelten Entfernungsmesser besaß. Für 352 DM bekam man 1956 auch die Einstiegs-Leica (1f mit 50 mm f/3.5 Elmar, Quelle: Photo Porst Katalog). Profis und betuchte Amateure, die wirklich parallel mit zwei Filmen operieren wollten, hatte entsprechend zwei Kameras. Laut McKeown gab es Pläne für eine Adox 500, die die für eine halbprofessionelle Kamera fehlenden Ausstattungsmerkmale (gekuppelter) Entfernungsmesser und (DKL?) Wechselobjektive gebracht hätte. Natürlich hätte das die Attraktivität der Kamera erhöht, mit Wechselmagazin wäre sie aber wieder teurer als ihre direkten Konkurrenten ohne solches gewesen.
Ich denke Adox fehlte auch das Geld dafür. Immerhin bewiesen sie ein paar Jahre lang Geduld und versuchten die 300 unters Volk zu bringen. 1962 wurde die Firma ja an DuPont verkauft. Ob nur der Tod von Carl Adolf Schleussner die treibende Kraft hinter dem Verkauf war, oder gar eine finanzielle Schieflage verursacht von der defizitären Kamerasparte, kann ich von heute aus nicht mehr beurteilen.
Zumindest das Magazin hat die Kamera überlebt: Adox verkaufte die Rechte an dem Patent und auch wohl die Werkzeuge zur Herstellung an die Firma Leitz, die es noch lange für ihre Mikroskopkamera Orthomat im Programm hatte. So findet man heute auch Magazine mit Leitz Logo, sogar in unterschiedlichen Farben. Alle Leitz-Magazine passen in die Adox 300. Auch wenn Leitz (im Gegensatz zu Adox) die Patentnummer 1,044,601 auf die Magazine druckt, handelt es sich noch lange nicht um ein Leitz-Patent, wie eine unten zitierte Quelle schreibt. Dies wurde definitiv den Adox Fotowerken erteilt.
Datenblatt | Kleinbildsucherkamera mit Wechselmagazin |
Objektiv | Steinheil Cassar 45mm f/2.8 (Triplet), Kamera war auch mit dem hochwertigeren Schneider Xenar 45 f/2.8 (Tessar Typ) erhältlich. |
Verschluss |
Synchro-Compur Zentralverschlass, B-1-2-4-8-15-30-60-125-250-500 (1/s). Einige Kameras auch mit Compur-Rapid bei ansonsten gleicher Spezifikation und Ausstattung. |
Belichtungsmessung | Eingebauter, ungekuppelter Selenbelichtungsmesser (Bewi Automat) mit Lichtwertanzeige. Aktivierung per Knopfdruck. |
Fokussierung | Manuell per Frontlinseneinstellung, kürzeste Entfernung 0,9 m. |
Sucher | einfacher, optischer Sucher. |
Blitz | Anschluss per PC-Buchse, umschaltbar M und X. |
Filmtransport | Schnellspannhebel auf der Kameravorderseite, links neben dem Objektiv. Bildzählwerk (rückwärts, Teil jedes Film-Magazins) |
sonst. Ausstattung | Wechselmagazin für beliebigen verlustfreien Filmwechsel mitten in der Rolle, ein zweites optionales Magazin vorausgesetzt. Selbstauslöser, Filtergewinde 32mm, Zubehörschuh, Iso-Drahtauslösergewinde, Stativgewinde 1/4'', Merkscheiben für Filmart und -empfindlichkeit an jedem Magazin. Trageösen sowie optionale Bereitschaftstasche aus Leder. |
Maße, Gewicht | ca. 143 x 90 x 67 mm, 834 g (592 g + 242 g Magazin, ohne Film) |
Baujahr(e) | 1956-1962, diese #003323 ca. 1957, Magazin #007732, insgesamt weniger als 9000 Kameras. |
Kaufpreis, Wert heute | 298 DM (1957), heute ca. 200 € |
Links | Camera-Wiki, Photobutmore, Harrisson, DBP1044601, USP 2,980,000, Classic Camera Collection |
bei KniPPsen weiterlesen | Zweites Wechselmagazin, Adox Golf, Witt Iloca Electric, Durst Automatica, Wirgin Edixa electronica, DKL, Braun Colorette, Zeiss Ikon Tenax II, Mittelformat mit Wechselmagazin |
Was für eine Kamera;)
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