Die Durst Automatica war 1960 die erste Kleinbildkamera mit automatischer Einstellung der Verschlusszeit, im Allgemeinen wird das "Zeitautomatik" genannt. Ich würde das bei der Kamera nur mit Abstrichen gelten lassen, denn die Blende konnte nicht wirklich frei gewählt werden, doch dazu gleich noch mehr. Die allererste Kamera mit einer Zeitautomatik war die 1956 erschienene Agfa Automatic 66 für den 120er Rollfilm. Die Technik zur automatischen Zeitsteuerung - ein Luft-pneumatisches Hemmwerk - war allerdings bei beiden Kameras dieselbe und basierte auf dem schon 1952 eingereichten und 1955 erteilten Patent DE923525 von Julius Durst (1909-1964), einem Südtiroler Erfinder und Fotounternehmer.
Durst Automatica EW, angeblich 1956 vorgestellt. Man beachte das Objektiv in Prontor SLK Wechselfassung |
Angeblich, so liest man auf der offiziellen Durst Homepage, hatte er die Inspiration dafür von Instrumententeilen eines abgestürzten amerikanischen Bombers 1944 bekommen. Die Firma Durst ist in der Fotoszene hautsächlich für ihre Vergrößerungsgeräte bekannt, produzierte aber zwischen 1938 und 1963 auch 4 verschiedene Kameramodelle, meist einfacher Art. Die Automatica war davon die einzige Kamera für den 135er Kleinbildfilm und ist technisch die anspruchsvollste.
Auf der Seite liest man auch, dass die Kamera 1956 vorgestellt wurde und findet ohne weitere Erläuterungen dazu ein Bild eines vermeintlichen Prototypen, das ein paar sehr interessante Details zeigt, die an der späteren Serienversion (sehr wahrscheinlich erst ab 1960 am Markt) nicht mehr zu finden sind. Da ist zuerst der Name "Automatica EW" und zwar so angeordnet, dass ein Fensterchen frei bleibt, welches auf einen Messsucher hindeutet. Und in der Tat findet man beim Öffnen des Serienmodells dieses Fenster noch, allerdings nun vom Namensschild verdeckt (siehe mein Bild unten). Und dann ist da ja noch das Objektiv: Ein ENNA Photavit-Ennit 2.8/50 in der charakteristischen Prontor SLK-Wechselobjektiv-Fassung. Wäre die Kamera so 1956 oder 1957 auf den Markt gekommen, hätte sie sicher ein bisschen Wirbel gemacht. Interessanterweise liest man sonst überhaupt nichts über diesen Prototypen und die Gründe, warum es nicht zu den Premium-Features kam. Vielleicht wurde man sich mit Prontor über die Lizenz zum Bajonett nicht einig, vielleicht war auch hier die technische Umsetzung mit der Pneumatik gescheitert. Oder das ganze Projekt war für die kleine Firma Durst mit sonst einfachen Kameras eine Nummer zu groß bzw. die Kamera zu teuer in der Produktion. Leider wird ja über Misserfolge nicht so viel geschrieben, wie über Erfolge. Und, um ehrlich zu sein: Vielleicht war auch die "EW" ein von Anfang an geplantes zweites Premiummodell, dass dann nie realisiert wurde.
Die tatsächliche Automatica war simpler: Es gab nur ein fest eingebautes Objektiv und mit dem Schneider Radionar ein relativ einfaches, aber dennoch ordentliches Triplet. Der Messsucher ist ein einfacher optischen Durchsichtsucher und als Verschluss wählte man den Prontor SVS mit einer 1/300s als kürzeste Zeit. Das größte Manko der Kamera wird erst auf den zweiten Blick klar: Es fehlt die Entkopplung von Blende und eingestellter Filmempfindlichkeit für die Automatik. Beide sind auf einem einzigen Ring einzustellen. Dies bedeutet, dass bei einem damals üblichen 50ASA/18 DIN Film die Blende konstant auf 8 stehen muss. Damit bekommt man bei etwas trüben Licht schnell verwackelte Aufnahmen, obwohl man eigentlich auch eine Blende 2.8 hätte. Damit ist die Kamera eigentlich keine vollwertige Zeitautomatik mehr, da man in vielen Situation wieder auf den manuellen Modus ausweichen muss. Die Agfa Automatic 66 hat diese Entkopplung übrigens schon 1956 durch elektrische Widerstände (Filmempfindlichkeit) und eine extra Blende vor der Selenzelle (Blendeneinstellung) realisiert. Das war Durst vermutlich zu teuer. Positiv anzumerken ist ein sehr solides Metall-Druckguss-Gehäuse, ein sehr ordentliches und höchst modernes Design mit interessanten Elementen wie versenkbarer Schnellschalthebel und Rückspulkurbel. Und natürlich die Automatik, die wie folgt funktioniert:
Natürlich habe ich schon länger nach der Kamera (bzw. der Agfa Automatik 66) Ausschau gehalten und war dann sehr erfreut, dieses Exemplar hier sehr günstig bekommen zu haben. Das liegt wohl hauptsächlich daran, dass die Selenzelle tot ist und damit die Automatik nicht mehr funktioniert. Neugierig wie ich bin, habe ich das Ding aufgeschraubt und zu meinem Erstaunen festgestellt, dass wenn man den Zeiger des Drehspulinstruments manuell bewegt, durchaus das pneumatische Hemmwerk noch genau das macht, was es soll. Erstaunlich robust, diese Technik. Auch sonst funktioniert der manuelle Modus (traditionelles Räderhemmwerk) noch einwandfrei, man könnte mit dem Schätzchen also noch fotografieren und sich am satten, dumpfen "Blupp" der pneumatischen Auslösung freuen.
Man findet einiges im Netz zu der Kamera (siehe Links unten), die meisten schreiben aber leider ungefiltert voneinander ab und es wird immer wieder behauptet, die Kamera wäre von 1956 bis 1963 gebaut worden. Das ist definitiv falsch, denn die Schneider Objektiv-Seriennummern, die auf fast allen Fotos gut lesbar sind, stammen ausnahmslos (!) von 1960. Aus dem Jahr 1960 findet man Werbung und auch Testberichte zur Kamera und ich denke man kann der Durst Homepage schon glauben, wenn sie schreibt, dass die Kameraproduktion im Jahr 1963 beendet wurde. Mit meiner Methode schätze ich auf Basis von 20 Kameras aus dem Netz die Gesamtzahl auf knapp unter 11,000 Exemplaren.
Automatikkameras gab es schließlich einige am Markt. Die Agfa Automatik 66 mit der (vermutlich lizensierten) Durst Technik an Bord, verkaufte sich 1956/57 nur schleppend (ca. 5000 Exemplare), und Agfa brachte 1959 mit der Optima die erste sehr erfolgreiche nun vollautomatische Kleinbildkamera. Nun allerdings mit der älteren Nadel-Klemm-Technologie, die Julius Durst in seinem Patent als sehr nachteilig verreißt. Diese setzte sich allerdings in der ersten Hälfte der 1960er Jahre durch und behielt ihre Bedeutung bis echte elektronische Hemmwerke kamen. Dazu mehr in meiner kurzen Geschichte der Belichtungsautomatik. Das pneumatische Hemmwerk sieht man nach 1963 meines Wissens in keiner anderen Kamera mehr.
Datenblatt | Erste KB-Kamera mit Zeitautomatik |
Objektiv | Schneider-Kreuznach Radionar 45 mm f/2.8 (Triplet) |
Verschluss | Prontor SVS-Zentralverschluss B-1-2-4-8-15-30-60-125-300 mit zusätzlich optionalem pneumatischem Hemmwerk für die automatische stufenlose Steuerung der Verschlusszeit |
Belichtungsmessung | Mit Selenzelle zur automatischen Einstellung der Verschlusszeit. Filmempfindlichkeit 6-400 ASA direkt mit Blendeneinstellung gekoppelt (s. Text). |
Fokussierung | Manuell, ca. 0.8 m bis unendlich. Keine Fokussierhilfe, Fokusring rastet bei 1 m (Schnappschuss) ein. |
Sucher | Einfacher optischer Sucher mit Leutrahmen, kein Parallaxenausgleich. |
Blitz | Per PC-Buchse, umschaltbar X, M |
Filmtransport | Schnellspannhebel, Rückspulkurbel, Bildzählwerk (vorwärts) |
sonst. Ausstattung | Zubehörschuh, Stativgewinde ¼'', Drahtauslösergewinde, Selbstauslöser |
Maße, Gewicht | 142x80x65 mm, 672 g |
Batterie | keine |
Baujahr(e) | 1960-1963, ca. 11,000 Exemplare, diese #69440 von 1960 |
Kaufpreis, Wert heute | ???, heute je nach Zustand (Selenzelle) ca. 80 bis 200 € |
Links | Camera-Wiki, Agfa Automatic 66 Gebrauchsanleitung mit guter Beschreibung des Atomatik-Prinzips, Italienische Web-Archiv Seite, Italienischer Artikel (Notariziaro Erca 12_1960), Harisson Photographic, Rangefinderforum, |
Bei KniPPsen weiterlesen | Geschichte der Belichtungsautomatik, frühe Zeitautomaten mit Elektronik: Pentacon Electra, Yashica Electro 35 |